«Hofnarr von Gesellschaft und Politik»
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9. Mai 2025 – Zur Überraschung vieler wurde der 42-jährige Zolliker Christian Walti neuer Pfarrer am Grossmünster. Nachdem ihn seine erste Pfarrstelle in das Berner Arbeiterquartier Holligen geführt hatte, ist der Wechsel an das altehrwürdige Haus mitten in Zürich gewaltig. Porträt eines Mutigen.

VON BARBARA LUKESCH
Was für eine Aufgabe! Pfarrer im Grossmünster, dieser Kirche, so imposant und mächtig, dass sie mit ihren beiden Türmen in den Himmel zu ragen scheint. Dazu so bekannt, dass sie für viele das Wahrzeichen von Zürich ist und Jahr für Jahr gegen eine halbe Million Besucher und Besucherinnen aus aller Welt anzieht.
Beladen auch mit einem riesigen historischen Erbe, schliesslich war es die Wirkungsstätte von Reformator Ulrich Zwingli, der die Kirche vor 500 Jahren von Grund auf umgekrempelt hatte. Nicht zu vergessen der direkte Vorgänger: Christoph Sigrist, mehr als 20 Jahre die prägende Figur, der Grossmünster-Pfarrer schlechthin, charismatisch, offen und sehr präsent.
Christian Walti hat sich trotzdem beworben, als er die Stellenausschreibung sah. Nach elf Jahren als Pfarrer im Berner Arbeiterquartier Holligen sei es für ihn Zeit für einen Wechsel und eine neue Herausforderung gewesen, erzählt er in der karg eingerichteten, winzigen Zwinglistube im Kulturhaus «Helferei».
Als gebürtiger Zolliker habe er natürlich einen starken Bezug zu Zürich, habe auch an der hiesigen Universität studiert und sei seit jeher begeistert vom Grossmünster gewesen, diesem Ort, der ihm wie das spirituelle Zentrum der Stadt vorkomme. Er finde es grossartig, dass die Kirche zwei Türme habe und nicht nur einen wie das Berner Münster, verbinde er damit doch eine Einladung an die Menschen, miteinander im Gespräch zu bleiben, statt sich einer einzigen Spitze, einer Art König, unterordnen zu müssen.
Er müsse allerdings zugeben, dass er sich keine grossen Chancen auf die Stelle ausgerechnet habe: «Ich war überzeugt, dass eine Frau gewählt wird.» Es gebe viele ausgezeichnete Theologinnen, die mindestens so gut qualifiziert seien wie er. Wer weiss, spekuliert er, vielleicht habe es einige abgeschreckt, in die grossen Fussstapfen von Christoph Sigrist zu treten; vielleicht habe es andere auch zurückgehalten, sich für eine Stelle zu bewerben, in der man so exponiert sei wie hier.
Was letztlich den Ausschlag zu seinen Gunsten gegeben habe, sei ihm nach wie vor ein Rätsel. Vielleicht sein Alter? Mit 42 Jahren repräsentiert er doch eine klar jüngere Generation, die im kirchlichen Umfeld eher untervertreten ist. Er nickt. Ja, das sei sicher wichtig gewesen.
Engagement für Menschen am Rande
Bei den Bewerbungsgesprächen habe er auch betont, dass er nicht nur klassische Kirchenthemen behandeln möchte. Seine bisherige Arbeit in Bern sei stark geprägt gewesen von der Diakonie, der Übernahme sozialer Aufgaben und Verantwortung für Menschen am Rande unserer Gesellschaft. So hat er sich für das Dock 8 engagiert, einen sozio-kulturellen Treffpunkt, wo es nicht nur eine warme Mahlzeit für Bedürftige und Zugang zum Internet gibt, sondern auch Veranstaltungen wie Theater, Konzerte, Lesungen und das «Death Café», wo im kleinen Kreis über Themen wie Sterben und Tod philosophiert werden kann.
Damit habe er in Zürich offene Türen eingerannt. Das Grossmünster sei schon lange eng verbunden mit einem Männerheim, der «Herberge zur Heimat», in der rund 70 Obdachlose mitten in der Stadt eine vorübergehende Bleibe finden. Gleichzeitig biete das kirchlich unterstützte Café Yucca im Niederdorf eine Anlaufstelle für diese Menschen an. Sein Vorgänger Christoph Sigrist sei ja auch Professor für Diakonie/kirchliche Sozialarbeit gewesen.
Wie hält er es denn nun mit diesem Christoph Sigrist, seinem Vorgänger, der mit seiner starken öffentlichen Präsenz viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat? Walti seufzt. Er kennt diese Frage, fast alle stellen sie ihm. Er sucht nach Worten, ringt regelrecht um eine Aussage, die ihm stimmig erscheint: «Ich bin sicher keine Kopie von einem anderen Menschen, schon gar nicht von jemand so Profiliertem.» Aber, und jetzt klingt er erfrischend trotzig, er sei auch keineswegs unfähig. Es gebe Ähnlichkeiten zwischen ihnen, aber er sei nun der Neue: «Ein Anderer». Und das sei gut so.
Abgesehen davon solle es überhaupt nicht nur um ihn und seine Person gehen: «Ich bin in Zürich, weil ich hier arbeiten will.» Noch vor dem offiziellen Antritt seiner Stelle am 1. Februar habe er sich mit seinem Kollegen, Pfarrer Martin Rüsch, zusammengesetzt und gemeinsam ein grosses Projekt anlässlich des 500-jährigen Bestehens des reformierten Abendmahls entworfen: «Innert Kürze wurde so aus Martin und Christian, zwei Menschen, die sich bisher nicht kannten, ein Team, das sich primär die Frage stellt: Wie bringen wir diesen Laden zum Laufen?»
Ein spiritueller Treffpunkt für alle
Dabei interessiere ihn ganz besonders, mit wem sie zusammenarbeiten können. Das sei um so wichtiger, weil das Grossmünster das einzige Kirchengebäude in Zürich sei, das nicht der Kirche, sondern dem Kanton gehöre: «Wir verfügen also nur über das Nutzungsrecht und haben damit die Aufgabe, diesen Ort zu einem spirituellen Treffpunkt für alle Menschen in Zürich und darüber hinaus zu machen.»
Das Grossmünster sei demzufolge keine ausschliesslich reformierte Kirche, er wolle auch die katholische Bevölkerung und muslimische Menschen beteiligen. Gerade diese Woche habe er mit dem Bischof von Chur, Joseph Maria Bonnemain, und Muris Begovic, dem Geschäftsführer der Vereinigung der islamischen Organisationen in Zürich, zwei Freunden, zu Mittag gegessen: «Der interreligiöse Dialog», konstatiert er, «ist für mich unerlässlich.»
Provozieren, irritieren, kritisieren
Nun ist er ja nicht nur Vernetzer und Projekt-Initiant, sondern auch Pfarrer, der eine grosse Gemeinde hat, regelmässig Gottesdienste abhält und seelsorgerliche Pflichten wahrnimmt. Wie versteht er denn diesen Teil seiner Arbeit? Das traditionelle Bild des Pfarrers als der Person, die auf der Kanzel steht und allen sagt, wo’s langgeht, hält er für ein «Auslaufmodell». Er wolle lieber der Hofnarr von Gesellschaft und Politik sein, dessen Aufgabe es auch sei, zu provozieren, zu irritieren und zu kritisieren. Insofern sei seine Arbeit immer auch eine politische: «Eine unpolitische Kirche ist für mich ein Widerspruch in sich.»

Seine Predigten sollten im besten Fall als Anregung dienen und den Menschen helfen, sich selber oder auch Gott zu finden: «Sie sollen Bewegung im Leben der einzelnen auslösen.» Konnte er in Bern grösstenteils frei, also ohne Manuskript, sprechen, gebietet ihm die Tradition am Grossmünster, seine Predigten aufzuschreiben und seiner Gemeinde am Ende des Gottesdienstes zur Verfügung zu stellen. Das sei eine Umstellung und erfordere mit bis zu sechs Stunden Vorbereitung pro Auftritt viel Zeit.
Jetzt ist Christian Walti gut drei Monate im Amt, die berühmten 100 Tage liegen hinter ihm. Wie fällt seine erste Bilanz aus? Es sei eine nahrhafte Zeit gewesen, lacht er, alles sei neu und ungewohnt. Neuer Arbeitsort, neuer Wohnort, neue Mitarbeitende. Er habe zwar bisher nur ein 75 Prozent-Pensum, sei aber trotzdem rund um die Uhr vor Ort. Dazu habe er auch noch ein Bein an seiner alten Wirkungsstätte in Bern, wo er zwei Konfirmandenklassen abschliessen wolle. Er beklage sich überhaupt nicht, betont er, schliesslich habe er ja genau diesen Wechsel selber angestrebt.
Seine Frau und die beiden fünf- und siebenjährigen Kinder, die weiterhin in Bern wohnen werden, habe er wenig gesehen. Das sei für’s Erste kein Problem, schliesslich sei auch noch Ostern in diese ersten hundert Tage gefallen, was ihm allein in der Karwoche vier Gottesdienste beschert habe: «Aber natürlich vermisse ich meine Familie und würde mir mehr Austausch mit meiner Frau wünschen, die ja auch Theologin ist.»
«Süchtig nach Begegnungen»
Was ihn sehr freue, sei, dass er in seinem Umfeld auf grosses Wohlwollen stosse. Klar, sei man als Pfarrer immer auch eine grosse Projektionsfläche und werde mit überraschenden, auch irritierenden Reaktionen konfrontiert. Da halte man eine Predigt, worauf ein Mann juble, diese Worte hätten sein Leben zum Guten hin verändert, während eine Frau ihm zwei Minuten später vorwerfe, dass seine Ausführungen ihren Glauben endgültig zerstört hätten. Er stöhnt: «Solch heftige Reaktionen lassen mich auch nach vielen Jahren Berufserfahrung nicht kalt.» Aber er könne sich inzwischen besser abgrenzen, indem er sich sage, dass es nicht seine wichtigste Aufgabe als Pfarrer sei, Beifall zu ernten.
Was ihn positiv überrascht habe, sei die Erkenntnis, wie viele Türen sich ihm öffneten, wenn die Leute realisieren, dass er nicht irgendein Pfarrer, sondern der Grossmünster-Pfarrer sei. So sei er am Sechseläuten von einer Zunft eingeladen worden. Der Tag habe zwar bereits morgens um 9.30 Uhr mit dem ersten Glas Weisswein begonnen und sei erst nachts um 2.30 Uhr nach vielen weiteren zu Ende gegangen, aber das Erlebnis sei spektakulär gewesen. Er werde überall vorgestellt und komme sofort mit den interessantesten Leuten ins Gespräch: «Das liebe ich, weil ich eigentlich eher schüchtern, aber gleichzeitig süchtig nach Begegnungen mit Menschen bin.»
Hier geht es zur Predigt, die Christian Walti am 4. Mai im Grossmünster gehalten hat.
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