Begegnung mit einem Urtier

0 KOMMENTARE

8. Oktober 2025 – Wilde Tiere in der freien Natur zu beobachten, ist ein Erlebnis der besonderen Art. Wer etwas Geduld mitbringt, kann im Jura eine kleine Herde Wisente aufspüren. Ihr Revier ist zwar eingezäunt, aber so weitläufig, dass man auch etwas Glück braucht, um fündig zu werden.

Der Wisent, die europäische Form des Bisons (Foto: Wiki)
Der Wisent, fürwahr ein Urtier (Foto: Wiki)

VON ADRIAN MICHAEL

Der Wisent ist die europäische Version des amerikanischen Bisons. Bis ins Hochmittelalter stapften diese Urtiere auch bei uns durch die Landschaft, dann wurden sie bis auf eine kleine Restpopulation in Osteuropa ausgerottet. Aber in einer abgelegenen Gegend im Jura streifen derzeit zehn Wisente durch unwegsames Gelände. Ihr Revier ist zwar eingezäunt, aber frei zugänglich. Das machte mich neugierig: Einem Wisent in (fast) freier Wildbahn begegnet man nicht alle Tage.

So steige ich eines Morgens im Dorf Welschenrohr (SO) aus dem Postauto. Auf der Webseite wisent-thal.ch fand ich umfassende Informationen zu den Tieren inklusive (sehr) empfohlene Verhaltensregeln: So sollte man unbedingt auf den Wegen bleiben und sich den mächtigen Vierbeinern auf nicht mehr als 50 Meter nähern.

Was fehlt, ist eine genaue Ortsangabe. Auf einem Plänchen ist nur das ganze 100 Hektar umfassende Gebiet eingezeichnet, wo sich die Herde aufhält. Das sind immerhin rund 140 handelsübliche Fussballfelder. Darin die Wisente zu finden, würde etwa gleich schwierig sein, wie wenn ich im Zolliker Wald ein paar Rehe aufspüren müsste. Aber ein Versuch sollte es mir wert sein.

Nach zehn Minuten Fussweg komme ich am Hof Sollmatt vorbei. In einem Schopf ist ein kleines Informationszentrum mit Fotos und allerlei Informationen eingerichtet. So erfahre ich, dass ich gleich zum ersten Tor kommen werde, durch das ich das Gehege betreten kann. Dort blicke ich mich erwartungsvoll um. Wo sind die Wisente? Immerhin entdecke ich im lehmigen Untergrund beeindruckend grosse Spuren, die ich als geübter Fährtenleser natürlich sofort den Wisenten zuordnen kann.

Doch hier komme ich nicht weiter. Also mache ich mich auf den Weg zum anderen Teil des Reviers. Dabei entdecke ich den Bauern, der vor dem Sollmatt-Hof an einem kleinen geländegängigen Fahrzeug herumwerkelt. Ob er mir einen Tipp geben könne, wo sich die Wisente aufhielten. Der Bauer lacht und zuckt mit den Schultern. «Irgendwo», sagt er. Er mache sich auch gerade auf die Suche. Zu meiner Überraschung fragt er, ob ich auf eine «Safari» mitkommen wolle.  Bingo! Voller Freude steige ich zu ihm in sein Gefährt. Er sei Beni, sagt er, Wisent-Ranger des Projekts. So hötterlen wir mit seinem Elektrofahrzeug bergauf und bergab über die unebenen Waldwege. Immer wieder macht mich Beni auf etwas aufmerksam: hier ein Baum, an dem sich die Wisente gescheuert hätten, dort ein Kasten, in dem wilde Bienen leben.

Ab und zu hält er an und zückt seine Antenne. Zwei Wisentkühe trügen einen Sender, erklärt er mir, und mittels Telemetrie könne er sie recht genau orten. Nur wenn sie hinter einem Hügel oder ein paar Felsen stünden, sei es schwierig. Plötzlich ruft er: «Dort sind sie!», und zeigt den Hang hinunter. Aber zu sehen sind nur Bäume.

Die nächsten 20 Minuten stapfen wir steil abwärts durchs Unterholz, ich bin froh um meine Outdoor-Ausbildung bei der Pfadi.

Aber unsere Suche bleibt ergebnislos. Keine Wisente weit und breit, obwohl das Empfangsgerät immer geradeaus angibt. Seltsam. Schliesslich findet Beni die Lösung. «Wir treiben sie vor uns her», erklärt er, «sie hören uns und ziehen sich zurück. Die Herde ist in den letzten Tagen unruhig, weil eine der Kühe trächtig ist und demnächst ein Junges zur Welt bringen wird.» Er wisse jetzt, dass sie ganz unten auf der Wiese am unteren Ende ihres Gebietes sein müssten.

Tatsächlich. Als wir den Wald verlassen, entdecken wir sie. Am Waldrand stehen zwei Wisentkühe, friedlich mampfen sie das frische Gras. Ein kurzer Blick zu uns, dann wird weiter gefuttert. Beeindruckend, die zottigen, urchigen Tiere ohne Zaun beobachten zu können. Weil die Herde immer zusammenbleibe, erklärt Beni, seien die anderen Tiere im direkt angrenzenden Wald.

Zwei Wisente auf einer Wiese (Foto: Adrian Michael)
Endlich tauchen sie auf: zwei Wisente (Foto: Adrian Michael)

Die Szene ändert sich augenblicklich, als der dunkle, mächtige Bulle den Wald verlässt. Im Gegensatz zu den Kühen blickt er uns unverwandt an. «Eine erste Drohung», konstatiert Beni. «Wir sind den Tieren zu nahe gekommen.»

So ziehen wir uns vorsichtig zurück und machen uns auf den Rückweg zum Auto. Beim Hof verabschiede ich mich von Beni, dankbar für seine Begleitung. Ohne ihn hätte ich die scheuen Tiere nicht gefunden, dazu hat er mir viel Neues erzählt. Dann spaziere ich zurück ins Dorf, das Postauto fährt gleich.»

WIR FREUEN UNS ÜBER IHREN KOMMENTAR

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

9 + sechzehn =

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht