Die Autorität der Maschine
0 KOMMENTARE
9. Oktober 2025 – Stellen Sie sich vor: Der Richter tritt ein, aber statt Robe trägt er ein Ladekabel. Er heisst nicht Müller oder Huber, sondern «Version 4.2». Willkommen im Gerichtssaal der Zukunft, wo Künstliche Intelligenz Urteile fällt – angeblich fairer, schneller und unbestechlicher als jeder Mensch.

VON BIANKA LICHTENBERGER*
Die Idee klingt bestechend. Keine schlechten Tage mehr, keine Stimmungsschwankungen, kein genervtes Augenrollen bei endlosen Plädoyers. Stattdessen ein Algorithmus, der alle Präzedenzfälle durchforstet und in Millisekunden ein Urteil produziert. Klingt effizient. Aber wie immer, wenn es zu schön klingt, stimmt etwas nicht.
Denn auch die KI liest nicht neutral. Sie liest, was wir Menschen ihr hinterlassen haben: Berge von Urteilen, in denen Männer eher als aggressiv und gewaltbereit und Frauen eher als fürsorglich und schutzbedürftig geschildert werden. Wer so gefüttert wird, spuckt genau das wieder aus. Das ist wie ein alter Vorurteils-Kuchen, neu verpackt in glänzendem Aluminium.
Noch absurder wird es, wenn man sich die im Gerichtssaal verwendete Sprache vorstellt. Werden die Urteile dann lauten: «§ 134 erfüllt. Confidence-Level: 87,2 Prozent.»? Vielleicht gibt es ja auch bald ein Update, das den Tonfall je nach Stimmung wählt – heute nüchtern, morgen ironisch?
Vielleicht liegt die eigentliche Gefahr weniger in falschen Urteilen, sondern darin, dass wir anfangen, ihnen blind zu vertrauen. Denn was die Maschine «sagt», muss ja stimmen. Genau da sollten die Alarmglocken schrillen: Gerechtigkeit braucht nämlich nicht nur Logik, sondern auch Herz und Seele.

Bianka Lichtenberger hat Wirtschaftswissenschaften und Soziologie studiert. Als ausgebildete Wirtschaftsjournalistin hat sie für das «Handelsblatt», die «Wirtschaftswoche», das «Manager Magazin» und den «Spiegel» geschrieben. Sie bekleidete anschliessend Führungspositionen im Bereich globale Organisationsentwicklung bei Alusuisse-Lonza, Schindler, ABB und ist Professorin der Fachhochschule Graubünden. Sie sagt: «Wir leben in einer Welt, die uns je länger je mehr herausfordert.» In ihrer Kolumne wird sie sich solchen Brennpunkt-Themen widmen.