«Wir kommen zu kurz»
0 KOMMENTARE
7. November 2025 – Unsere Gemeinde ist ein Unikum. Sie besteht aus separaten Siedlungen mit eigenen Postleitzahlen: 8702 und 8125. Wie nimmt die Bevölkerung diese Zweiteilung wahr? In zahlreichen Gesprächen zeigt sich: die Bergbevölkerung fühlt sich schon ein wenig benachteiligt.

VON BARBARA LUKESCH
Der Bus 910 ist ein Thema, das die Leute im Zollikerberg in Rage bringt. «Ein Debakel», zürnen viele. Der Quartierverein mobilisierte und zwang den Gemeinderat mit rund 850 Unterschriften, beim Kanton Rekurs gegen die Amputation der Strecke Dufourplatz – Bahnhof Tiefenbrunnen einzureichen. In Küsnacht habe es der Gemeinderat ja auch geschafft, der Bevölkerung die Buslinie 918 zu erhalten, heisst es. Dass der Zolliker Rekurs vom Kanton inzwischen abgeschmettert worden ist und der Gemeinderat das Thema auf die lange Bank schieben will, hat neuen Unwillen ausgelöst. Die Gemeinde solle Geld in die Hand nehmen und den Bus zum Tiefenbrunnen selber finanzieren – diese Meinung ist im Zollikerberg weit verbreitet. Vom Gesetz her wäre das möglich.
Wir müssen zugeben, dass wir die Brisanz dieses Themas zu Beginn unterschätzt haben. Was damit zusammenhängt, dass wir erst vor gut zwei Jahren vom Dorf hinauf in den Berg gezogen sind. Wir realisierten erst mit Verspätung, dass der Streit um den 910er auch Ausdruck eines tieferliegenden Problems ist: Viele BewohnerInnen auf dem Zollikerberg haben das Gefühl, sie kämen im Vergleich mit dem Dorf immer wieder zu kurz.
Verkehrte Welt
Will man das Verhältnis von Berg und Dorf ergründen, wird es zunächst einmal kompliziert, denn bei uns steht die Welt Kopf. In Zürich wohnen die Gutbetuchten oben am Zürichberg und schauen auf das «gemeine» Volk herab. Hoch über der Stadt zu wohnen, verleiht Prestige, Normalsterbliche können sich die Häuser und Mieten nicht leisten. In Zollikon findet man die Villen und das alte Geld unten im Dorf und auch noch auf halber Höhe an der Schlossberg- und Höhestrasse. Der Zollikerberg jedoch – ohne Blick auf den Zürichsee – ist im Vergleich zum Züriberg schon fast ein Armenquartier.
Was die Attraktivität angeht, haben «die unten» die Nase in mancherlei Hinsicht deutlich vorne. Allein im Zolliker Dorfkern gibt es drei Restaurants – Zollikerstube, Napulé, Rössli – und das Café Hausammann, während der Zollikerberg nicht einmal einen Dorfplatz hat, der diesen Namen verdient. Der Zolliker Journalist und «Wanderpapst» Thomas Widmer, der in unserer Nachbarschaft lebt, überschrieb vor Jahren ein Porträt über den Zollikerberg mit dem treffenden Titel «Wir sind eine Kreuzung». Der Verkehrsknoten am Rosengarten ist unser Wahrzeichen, und dank den Südanflügen brauchen wir keinen Wecker.
Der Segen hängt schief
GesprächspartnerInnen zählen weitere Benachteiligungen auf: die Gemeindeversammlung finde ausschliesslich im Dorf statt, früher habe man noch gewechselt: einmal im Dorf, einmal im Berg. Auch der Kulturkreis halte seine Anlässe fast immer dort ab. Dazu seien der Weihnachtsmarkt, die Chilbi und das «Grümpi» gleichfalls Teil des dörflichen Lebens und nötigten die BerglerInnen, jedes Mal ins Tal zu steigen, wenn sie daran teilnehmen möchten.
Vergleiche man die Schulhäuser, schlage das Oescher das Rüterwis um Längen, insbesondere auch wegen der unterschiedlichen Gestaltung der Pausenplätze. Sportangebote konzentrierten sich ebenfalls im Dorf. Der Fussballclub hat seine Trainings- und Spielplätze mitten in einem Wohngebiet, während im Berg ein Tschutti-Plätzli am Rüterwis-Waldrand ein Schattendasein fristet. Natürlich stehen auch die beiden Pfadi-Hütten nicht auf dem Berg. Fast noch mehr Ärger aber lösen momentan die neuen Fitness-Geräte auf der Sportanlage Buechholz aus – einmal mehr eine Investition im Dorf.
Unerklärlich finden es auch viele, dass es nur im Dorf eine Hauptsammelstelle gibt, während sich der Berg mit mobilen Sammelstellen und sehr viel beschränkteren Öffnungszeiten begnügen müsse. Zudem erhalte das Dorf demnächst ein zukunftsträchtiges Fernwärmenetz, während die Pläne für ein vergleichbares Projekt auf dem Berg wieder gestoppt wurden – mit guten Gründen, das sei eingeräumt, weil das Spital nicht mitmachte, aber eben einmal mehr zum Nachteil der Bergbevölkerung. «Im Zweifelfall», seufzt ein Gesprächspartner, «fallen Entscheide einfach immer zugunsten vom Dorf aus.»
Persönliche Betroffenheit
Wir haben jahrzehntelang im Herzen des Dorfs gewohnt – an der Alten Landstrasse 93/95, wo heute das Fischgeschäft ist und vor noch nicht langer Zeit die Bäckerei Hausammann einquartiert war. Die Wohnlage war ideal. Zwischen Migros und Coop, 1 Minute bis zum Bus nach Zürich, in der Nähe von Wald und See. Der Mietzins war mit 2800 Franken für eine 5 Zimmer-Wohnung mit Garten relativ moderat. Das Haus aus dem 18. Jahrhundert war zwar nicht mehr auf dem neusten Stand, aber es hatte Charme und bezauberte alle Menschen, die uns besuchten. Kurz: wir waren rundherum zufrieden mit Ort und Art unseres Wohnens.
Dass es oben im Berg so etwas wie einen zweiten Teil unserer Gemeinde gibt, nahmen wir damals nicht wahr. Wir sind nicht einmal sicher, ob wir überhaupt wussten, dass dieser zweite Ortsteil existiert.
Zum ersten Mal trat der Ort mit der eigenen Postleitzahl in unser Bewusstsein, als wir einen Krippenplatz für unseren Sohn suchten. Vielleicht erinnern Sie sich: die erste Kita der Gemeinde befand sich im Zollikerberg am Neuweg 10, heute wird sie von der KIMI Krippen AG betrieben. Wir waren enorm froh über das Angebot. An der grundsätzlichen Gleichgültigkeit gegenüber dem Zollikerberg änderte sich trotzdem nichts. Wir stiegen zweimal wöchentlich morgens ins Auto, um unser Kind hinzubringen, und abends holten wir es wieder ab.
1993 war es dann ein tragisches Ereignis, das den Zollikerberg national, ja, sogar über die Landesgrenzen hinaus ins Gespräch brachte: Der Mord an der Pfadfinderführerin Pasquale Brumann. Plötzlich stand der Zollikerberg im Rampenlicht. Doch nachher – wir geben es zu – erlosch unser Interesse erneut.
Vor rund vier Jahren wurde uns die Wohnung gekündigt; das Haus sollte abgerissen werden. Das war ein Schock. Auf einmal gehörten wir zu den Menschen, die in Schlangen vor unbekannten Häusern standen. Selbstverständlich suchten wir zunächst nur im Dorf. Doch je länger sich die Suche hinzog, um so schneller stiegen die Mieten. Wir konnten uns das Dorf schlicht nicht mehr leisten.
Nach der gefühlt dreissigsten vergeblichen Besichtigung dämmerte es uns: Wir müssen auch den Zollikerberg in die Suche mit einbeziehen – und wurden ziemlich bald fündig. Wir wohnen nun seit zweieinhalb Jahren an der Langwattstrasse und sind – Überraschung! – sehr zufrieden. Einigermassen vertretbarer Mietzins, viel Grün, im Sommer angenehm kühl und luftig, ein Katzensprung bis in den Wald, schöne Grillstellen überall, dazu der Waldlehrpfad, das Wehrenbachtobel, fünf Minuten bis zur Forchbahn, eine viertelstündige Fahrt zum Stadelhofen, zehn Minuten bis ins Naherholungsgebiet auf der Forch, viele freundliche Menschen in unserer Umgebung. Wir sind beeindruckt vom Chramschopf, dieser schönen Institution, die über eine lange Tradition verfügt, und staunen, was der Quartierverein, aber auch der Freizeitdienst und der Verschönerungsverein immer wieder auf die Beine stellen.
Hoffnung machte dem Berg jüngst auch Gemeinderat Patrick Dümmler, als er an einer Veranstaltung zum Thema Zentrumsgestaltung Zollikerberg sagte: «Jetzt ist der Zollikerberg einmal dran.» Immerhin!
Wenn Sie unseren wöchentlichen Gratis-Newsletter erhalten möchten, können Sie sich gerne hier anmelden. Sie können diesen Artikel auch gerne in Ihrem Netzwerk teilen: