Das «sittliche Empfinden» in der Badeanstalt

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19. Mai 2022 – In der Seebadi gab es 87 Jahre lang getrennte Bereiche für Frauen und Männer. Zeitweilig wurde für die Frauen gar ein Sichtschutz gegen den See hin errichtet. Das «sittliche Empfinden» war – und bleibt – ein grosses Thema.

Das alte Seebad um 1911
Das alte Seebad mit dem abgeschotteten Frauanabteil um 1911 (Fotos: Ortsmuseum)

Pünktlich zum Start der Badesaison 2022 hat die Berner SP-Nationalrätin Tamara Funiciello für Frauen das Recht eingefordert, in sämtlichen Frei- und Hallenbädern der Schweiz «oben ohne» baden zu dürfen; gleiches Recht für Männer und Frauen. Kritische Stimmen befürchteten umgehend, dass solche Freizügigkeit das «sittliche Empfinden» anderer Badegäste verletzen könnte.

Auch das Zolliker Seebad blickt bei diesem Thema auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Mirjam Bernegger vom Ortsmuseum hat sie in der laufenden Sonderausstellung «Sünele, schnäddere, schwüme» zum 100-Jahr-Jubiläum facettenreich aufgearbeitet.

Beginnen wir ganz vorne: Bei der Vorgängerversion des heutigen Seebads schottete man den Frauentrakt nicht nur gegen das benachbarte Abteil der Männer, sondern zusätzlich seeseitig mit grossen Brettern gegen neugierige Blicke ab. Eine Lücke erlaubte es den Frauen, in den See hinaus zu schwimmen und sich anschliessend wieder zurückzuziehen. Dieser Durchlass ist auf dem Foto leider nicht zu sehen, das Ruderboot mit dem stehenden Fischer verdeckt ihn.

Platztausch und Erleichterung

Als das neue, erweiterte Seebad vor 100 Jahren eingeweiht wurde, tauschten die Männer und Frauen die Plätze, und eine Bretterwand hielt man nicht mehr für nötig. Wie der Plan zeigt, schwammen die Männer tendenziell Richtung Zürich aus dem geschützten Bassin hinaus auf den See, während die Frauen eher Richtung Rapperswil unterwegs waren. In der Badi galt weiterhin eine strikte Trennung der Geschlechter, damit alles seine Ordnung hatte.

Plan der Seebadi vor dem Bau
Plan der Seebadi mit Sprungbrettern in beiden Abteilungen
Im See schwimmende Frauen um 1925
Die Frauen blieben unter sich und schwammen um 1925 tendenziell seeaufwärts

Zur selben Zeit wie in Zollikon wurde am gegenüberliegenden Seeufer das Strandbad Mythenquai eröffnet. Die Trennung von Frauen und Männern – ebenfalls mittels einer hohen Bretterwand – kam bei den Badegästen gar nicht gut an. Sie rissen die Konstruktion kurzerhand nieder und erzwangen so die Errichtung eines Familienbads. Dies wiederum animierte die Schweizer Satirezeitschrift «Nebelspalter», Karikaturen zum Thema Strandbad und ein Gedicht von Karl Seeling zu publizieren, dessen erste Strophen eine Vorstellung davon vermitteln, in welchen Nöten sich die jungen Männer von damals offenbar befanden:

«Spione in den Damenkabinen»

Auch wir Junggesellen sind
für die Reize schöner Damen
keineswegs verächtlich blind,
insoferne sie im Rahmen
einer kleinen Zote sind.

So zum Beispiel lockt uns immer
der Kabinen Badewunder,
weil dort dralle Frauenzimmer,
oben schmal und unten runder,
bei der Sonne Mittagsflimmer

ganz entzückend sich entblössen.
Durch ein Loch im Holzverhaue
Sehn wir Busen aller Grössen …

Nebelspalter-Karikatur Trennwand
Grosses Interesse am anderen Geschlecht: «Nebelspalter»-Karikatur

Wie inspirierend die Geschlechtertrennung auch in Zollikon war, zeigt eine Notiz der zuständigen Behörden aus dem Jahr 1930: Ein Jüngling habe das Sprungbrett der Frauenabteilung zur Vorführung akrobatischer Sprünge missbraucht. Und zwar dermassen, dass es brach und ersetzt werden musste. Die Gemeinde machte den Jüngling auf die einschlägige Vorschrift der Badeordnung aufmerksam, «wonach das Betreten der Abteilung des andern Geschlechts nicht gestattet ist».

Strenge Regeln, clevere Jungs

Darüber hinaus untersagte die Badeordnung den «Aufenthalt in der Badeanstalt ohne Badekleider», die Benutzung des Flosses und der übrigen «Schwimmkörper» wie Balken oder Fässchen in den Gewässern des andern Geschlechts sowie «den Zutritt Nichtbadender und das Herumstehen Angekleideter».

Nun sind Verbote nicht zuletzt dazu da, um übertreten zu werden. Der langjährige Zolliker Seeretter Fredi Oleram erinnert sich in einer Tonbandaufnahme an die damalige Ungerechtigkeit, dass den Frauen im Zuge einer Lockerung der Sitten der Besuch der Männerabteilung gestattet war, den Männern und Jünglingen das Gegenrecht aber vorenthalten wurde. Doch die wussten sich mit riskanten Tauchgängen unter das Meitli- und Frauenfloss zu helfen:

Der ehemalige Seeretter Fredi Oleram erinnert sich
Zolliker Lausebengel im Männerabteil der Seebadi um 1926
Zolliker Lausebengel im Männerabteil um 1926

1957 fragte der Bademeister die Zolliker Gesundheitsbehörde an, bis zu welchem Alter Knaben ihre Mütter in die Frauenabteilung begleiten dürfen; es habe «diesbezüglich in letzter Zeit diverse Diskussionen» abgesetzt. Noch nicht schulpflichtigen Knaben sei die Begleitung der Mutter in die Frauenabteilung gestattet, erhielt er zur Antwort, aber ab der ersten Klasse hätten sie dort nichts mehr zu suchen. Eine ziemlich rigide Regelung.

«Ausdruck der Emanzipation»

Als die Französin Brigitte Bardot die «Oben ohne»-Welle in Europa auslöste, US-Feministinnen öffentlich ihre Büstenhalter verbrannten, um sich zu befreien («bra burning») und deutsche Studentinnen mit nacktem Oberkörper gegen «obrigkeitsstaatliches Denken» protestierten, ergriff die Zolliker FDP die Gelegenheit, um sich für die Aufhebung der Geschlechtertrennung in der Seebadi stark zu machen – naturgemäss mit wirtschaftlicher Begründung: Durch die «Abschaffung des alten Zopfes» liesse sich die Kapazität des Seebads ohne Kosten verdoppeln. Vielen stiess sauer auf, dass das Frauenabteil oft halb leer war, während die Badegäste in der gemischten Zone ihre Tüchlein auf engstem Raum auslegen mussten.

Der Vorstoss der FDP animierte den «Zolliker Boten» zu einer fast literarischen Feststellung: «Damit würde auch in Zollikon der letzte Rest des einst sorgsam gehüteten Geheimnisses um die badende Weiblichkeit schwinden. Durch die umstrittene Türe gäbe es dann keine verstohlenen Blicke mehr ins Frauenabteil.» Die Gesundheitsbehörde entschied salomonisch: Die Trennung der Geschlechter wurde 1969 aufgehoben. Gleichzeitig erklärte man die Wiese hinter dem Frauenabteil zur Ruhezone.

Das «sittliche Empfinden» änderte sich in jenen Jahren fundamental. 1978 entschied die Anklagekammer des Berner Obergerichts, Frauen mit entblössten Oberkörpern seien in Freibädern nicht mehr wegen «schwerer Missachtung des Sittlichkeitsgefühls» zu verfolgen. Allenfalls könne man ihnen noch «unanständiges Benehmen» vorwerfen, was aber nicht strafbar sei.

Die «Oben-ohne»-Welle schwappte auch nach Zollikon über und löste postwendend Widerstand aus: Die besorgte Mutter eines zwölfjährigen Mädchens stellte bei der Gesundheitsbehörde das Begehren, den Frauen zu verbieten, sich ohne Oberteil im Seebad aufzuhalten. Der Gesundheitsvorstand hielt fest, «dass sich diese Sitte vermehrt einbürgert (Tiefenbrunnen und andere Seebäder, Marzili Bern) und als Ausdruck der Emanzipation der Frau zu betrachten ist». Weil keine weiteren Klagen eingegangen seien, scheine es zweckmässig, «mit der Gesuchstellerin das Problem im Seebad zu besprechen». Über das Resultat ist nichts bekannt. Zu einem Verbot kam es jedoch nicht.

Wie es Wellen so an sich haben, verebbte auch diese bald, und das Pendel schwang zurück. Laut der Zolliker Badeordnung aus dem Jahr 2009 darf das «sittliche Empfinden» in Sachen Badekleidung nicht verletzt werden. In der Umsetzung gibt es einen gewissen Spielraum. Laut Jürgen Richter, dem Leiter der Zolliker Badeanlagen, würde man im Seebad das «Oben ohne»-Baden «in der Ruhezone tolerieren, so lange es keine Reklamationen gibt, nicht aber in der gesamten Anlage». (rs)

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Das Guckkastenprinzip

Ein attraktiver Teil der 100-Jahre-Seebad-Ausstellung im Ortsmuseum funktioniert nach dem Guckkastenprinzip: Man besucht die Umkleidekabinen und bekommt Informationen nicht nur über die damalige Geschlechtertrennung, sondern auch zu den Themen «Freier Eintritt für alle», «Seerettungsdienst», «Buben- und Mädchenstreiche», «Schulschwimmen & Freibad», «Seegfrörni 1929 und 1963» und last, but not least: «Beschwerden und Kuriositäten».

Guckkästen in der Seebadi-Ausstellung
Guckkastenprinzip: Ausstellung im Ortsmuseum (Foto: Oliver Theinert)

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