Auf Toggenburger Höhenwanderung
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Adrian Michael: «Die heutige Wanderung habe ich schon mehrere Male in Klassenlagern gemacht, nun will ich sie einmal ohne Kinderbegleitung gehen (‹Sie wie lang gaht’s na?› ‹Isch’s na wyt?› ‹Sie, ich ha Hunger (Durscht/Blatere)›, ‹Sie, ich mues ufs WC›).»
VON ADRIAN MICHAEL
Die Wanderung beginnt mit einer Attraktion, einer abenteuerlichen Fahrt in der Seluner «Kistenbahn» nämlich; knapp 600 Höhenmeter geht’s in Starkenbach gar stotzig hinauf. Ich bin froh, früh losgezogen zu sein, als einer der ersten kann ich das Postauto verlassen. Die paar hundert Meter bis zur Talstation habe ich schnell zurückgelegt und setze mich schon bald in eine Kiste. Da nur vier Erwachsene Platz haben und die Fahrt gut 10 Minuten dauert, hat man Pech, wenn vor einem grad eine Wandergruppe hinauf will.

Je höher die Kiste steigt, desto mehr weitet sich der Blick über das Toggenburg, links über Nesslau hinunter nach Wattwil, rechts hinauf Richtung Wildhaus, meinem heutigen Ziel. Menschen mit Höhenangst ist von der Fahrt eher abzuraten, andere geniessen dieses luftige Hochschweben.

Um 9 Uhr komme ich oben an. Das frühe Aufstehen hat sich gelohnt, nur wenige Leute sind unterwegs. Heimelig bimmeln Glocken, friedlich rupfen die Kühe (mit Hörnern!) ihren Zmorgen von den Wiesen, rechts ragen die Zacken der Churfirsten mächtig in die Höhe.
Über den Wanderweg erreiche ich nach rund 10 Minuten die erste Sehenswürdigkeit, das Wildmannlisloch in der Flanke des Selun. Eine geschichtsträchtige Höhle ist das, Knochen von aller Gattig Tieren aus der Zeit der Neandertaler wurden darin gefunden, von Höhlenbären, Hirschen und Höhlenlöwen. Die dunkle Enge weckte jeweils die Fantasie der Kinder. Hoffnungsvoll stocherten einige mit einem Ast in der Erde herum – vielleicht liegt da ja noch ein Bärenschädel?

150 Meter tief reicht die Höhle in den Berg hinein. Ein Stück weit ist sie zugänglich, allerdings nicht für Menschen mit Platzangst, im hinteren Teil muss man sich zwischen den Höhlenwänden hindurchzwängen. Und ohne gute Ausrüstung (Gummistiefel!) kommt man nicht weit, vor allem nach Regenfällen steht man bis zu den Knöcheln im Schlamm.
Neben einer Feuerstelle informiert eine Tafel über die geschichtlichen Hintergründe. Auch eine Sage vom «Wilden Mannli» ist mit der Höhle verbunden. Historisch belegt hingegen ist die Geschichte eines verwilderten Jungen, etwa 15 Jahre alt, der 1844 in der Gegend aufgegriffen wurde und der auch ab und zu in der Höhle genächtigt haben soll. In einem Pflegeheim in Alt St. Johann lebte er noch viele Jahre. Sprechen lernte er nie, und wer er war, wurde nie aufgeklärt. Er starb 1898 und wurde unter grosser Anteilnahme der Bevölkerung beerdigt. Unter dem Titel «Der rätselhafte Junge aus dem Toggenburg» haben wir kürzlich über ihn berichtet.
Da nun aber eine stattliche Familie die Höhle in Beschlag zu nehmen droht, mache ich mich nach einem kurzen Fotohalt wieder auf den Weg. Die eigentliche Höhenwanderung beginnt gleich mit einer Versuchung: Eine Sennerei bietet allerhand Leckereien an. Und auch wenn Oscar Wilde gesagt haben soll: «Versuchungen sollte man nachgeben; wer weiss, ob sie wieder kommen!», verzichte ich darauf, mich mit einem Bierchen für die bevorstehenden Stunden zu stärken.

Sachte abfallend zieht sich der Weg über weite Alpen hin. Überall weiden Kühe, aus allen Richtungen ertönt das Gebimmel ihrer Glocken. Der Himmel ist etwas mit weissem Wolkengschlirp verhangen, das für äusserst angenehmes Wanderwetter sorgt. Die zwei wuchtigen Pick-Ups, mit denen die Milch zu einer Sammelstelle gebracht wird, wollen nicht so recht in die ländliche Idylle passen, aber natürlich hat die Moderne auch hier oben Einzug gehalten, wer wollte es den Sennen verargen.
Nun öffnet sich der Blick nach links. Der Gipfel des dominierenden Säntis ist von einer Wolke umhüllt, rechts daneben steht spitzig der Altmann. Über einen steinigen Wurzelweg geht’s steil abwärts auf den angenehm zu begehenden Wanderweg. Ich folge dem Wegweiser Richtung Alp Selamatt. Und dann liegt linkerhand in einer sanften Mulde ein kleiner namenloser See. Mich wundert, dass hier keine Tafel des Sagenwegs steht, lädt der Weiher doch förmlich ein zu einer mysteriösen Geschichte über eine Wasserfee, Elfen oder Kobolde.

Auf einer weiten Hochebene, wieder beseelt von Kühen mit bimmelnden Glocken, steht eine Tafel des Sagenwegs. Berichtet wird hier die hübsche Geschichte einer jungen Dame edlen Geblüts, die es bei der Wahl ihrer Männerbekanntschaften an der nötigen Sorgfalt missen liess und nach einigem Unheil in einem Wald als Geist herumspuken musste. Aber eines Tages wurde sie von einem gutherzigen Mädchen erlöst – und ward seither nicht mehr gesehen. Dass neben einer Feuerstelle eine schnöde Toi-Toi-Kabine von einem Holzverschlag barmherzig umhüllt ist, gefällt mir. Ebenso kundenfreundlich die Tafel an einem Zaun: «Vorsicht, der fitzt im Fall!»



Nach einem kurzen Abstieg über eine weitere Geländestufe führt der Weg durch lockere Tannengruppen, immer wieder vorbei an Sennhütten, und ab und zu liegt da ein kleiner, versumpfter Weiher.

Nach gut eineinhalb Stunden erreiche ich die Alp Selamatt. Die neue Bergstation ist umgeben von einem Stall, einem stattlichen Berggasthaus und der Talstation eines Skilifts. Selamatt ist eine der vier Bahnen, die vom Tal her über das ganze obere Toggenburg verteilt in die Höhe führen. Unweit der Bergstation steht die Bergkapelle Selamatt, ein moderner Bau mit einem schlichten Innenraum aus Holz.

Daneben steht ein kleiner Verkaufsstand, an dem eine nicht anwesende Martina vertrauensvoll selbst hergestellte Stirnbänder anbietet. In einem aufliegenden Buch kann man Kommentare einfügen und getätigte Einkäufe notieren, was tatsächlich immer wieder geschehen ist.
Neben dem «Sagenweg» führt mit dem «Klangweg» noch ein weiterer Themenweg durch die Landschaft. Mit zur Verfügung gestellten Materialien kann man an der ersten Station auf alle möglichen Arten Töne erzeugen. Allerdings scheint bei den Kindern die gutmütig daneben stehende Kuh mehr Interesse zu wecken als das Erzeugen von sphärischen Klängen.
Dann folgt eine witzige Station: Meine Handy-Frequenzen werden an einen mechanischen Specht weitergeleitet, der dann an einem Baum an ein künstliches Vogelhäuschen klopft – verblüffend! An weiteren Stationen erfahre ich, dass mit einem Edaphon das Gekrabbel der kleinen Tiere im Waldboden hörbar gemacht werden kann, und dass ein Aelion eine Windharfe ist, benannt nach dem Hüter der Winde, König Aiolos in der antiken Dichtung. Eine unterhaltsame und lehrreiche Sache, dieser Klangweg!

Der folgende Wegabschnitt ist nun deutlich stärker begangen als die ersten paar Kilometer. Familien mit Kindern erkunden den Klangweg, und Ausflügler fahren zur Bergstation Selamatt, um dort zu essen oder eine Wanderung zu starten.
Die nächste Station ist der Iltios, wo die Standseilbahn von Unterwasser ankommt und die Gondel auf den Chäserrugg fährt. Spektakulär thront dort oben die edle Bergstation der Architekten Herzog & de Meuron. Aber auf diesen Abstecher verzichte ich, mich lockt der Schwendisee.
Beim Iltios herrscht recht lebhafter Betrieb, neben Familien mit Kindern, Motorrädern, Kampfwanderern mit Stöcken und währschaften Schuhen haben auch locker daherpedalende eBike-Fahrer den Weg hier hinauf gefunden. Die Terrasse des Restaurants ist gut besetzt, Wortfetzen in mehreren Sprachen schwirren durch die Luft.
Auch wenn nun gleich Mittagszeit ist, mag ich mich nicht in den Rummel setzen, ich hoffe beim Schwendisee auf mehr Ruhe. Ihn erreiche ich nach etwa 20 Minuten. Aus der Entfernung fällt ein ungewohntes Gebäude auf, dass in den letzten paar Jahren an der Stelle des in die Jahre gekommenen Restaurants «Seegüetli» entstanden ist: das Klanghaus, das Zentrum von «Klangwelt Toggenburg». Dazu gehört auch das vollständig aus Holz gebaute und frei zugängliche «Resonanzzentrum Peter Roth» in der Nähe.

Der Schwendisee ist über einen Holzsteg zu erreichen. Mit der erhofften Ruhe scheint es aber nicht weit her zu sein: Viele kleine Kinder wuseln umher, umschwirrt von ihren Sonnencrème-Flaschen schwingenden Eltern. Aufmerksamkeit ruft eine Tafel hervor, wo darauf hingewiesen wird, dass sich im Schwendisee Blutegel tummeln. («Bissed die? Wääk!») Aber 50 Meter weiter steht zum Glück ein freies Bänkli. Nach einem erfrischenden Bad im See gönne ich mir das von der Bäckerei Abderhalden in Ebnat-Kappel üppig zubereitete Sandwich und den Tee aus Alpenkräutern.

Nun folgt die letzte Etappe, sie führt mich zuerst zum Zolliker Ferienhaus «Höchi». Aber vorher komme ich an einem «Mitfahrbänkli» vorbei. Hier setzt man sich hin, wenn man auf eine Mitfahrgelegenheit hofft – und mit etwas Glück hält auch mal jemand an.

Dann bin ich bei der «Höchi»; hier habe ich im Sommer und Winter unzählige Ferien- und Klassenlager geleitet; zahlreiche Erinnerungen steigen auf. Tempi passati. Über einen Wiesenweg erreiche ich die Strasse, die ins Dorf hinunter führt. In Erinnerung habe ich sie noch als schmales Strässchen, heute ist sie breit ausgebaut. Im Dorf reicht die Zeit noch für einen kurzen Blick auf Zwinglis Geburtshaus, dann kommt auch schon das Postauto. Schön war’s.

Anforderungen: 12,3 km, 277 Meter aufwärts, 793 Meter abwärts. 3 ½ Stunden
Route: PDF von SchweizMobil

Adrian Michael hat 37 Jahre lang an der Zolliker Primarschule unterrichtet. Seit 2017 ist er pensioniert. Nebst der Zolliker Lokalgeschichte gehört auch das Wandern zu seinen Steckenpferden.