Der rätselhafte Junge aus dem Toggenburg

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20. Oktober 2025 – Viele Zolliker kennen Wildhaus von Klassenlagern und Wanderungen. Dass sich in jener Gegend einst eine tragische Geschichte abspielte, wissen die wenigsten. Es ist die Geschichte eines Mannes ohne Namen, dessen Leben bis heute Rätsel aufgibt.

Die einzige Aufnahme von Johannes Seluner, um 1880 (Fotos: pd)
Die einzige Aufnahme von Johannes Seluner, um 1880 (Foto: pd)

VON ADRIAN MICHAEL

Heute vor 127 Jahren starb in Nesslauer Armenhaus im Toggenburg ein alter Mann. Niemand wusste, wie er hiess, wie alt er war und woher er stammte.

Am 9. September 1844 stiess der Ziegenhirt Niklaus Baumgartner auf der Seluner Alp oberhalb des Weilers Starkenbach auf einen fast nackten jungen Burschen. Er soll sich in einem bemitleidenswerten Zustand befunden haben und konnte sich nicht verständlich machen. Deshalb habe er ihn ins Tal hinuntergebracht, nach Alt St. Johann, wo er von der Behörde ins Armenhaus gesteckt wurde. Der untersuchende Arzt schätzte das Alter des Jungen auf 15 bis 16 Jahre. Der ärztliche Befund wurde dem Bezirksamt zugeschickt, zusammen mit der Mitteilung, so heisst es im Protokoll des Gemeinderats, «dass wir wünschten, dieses Menschen entledigt zu werden».

Nachforschungen durch die Behörden und die Kantonspolizei St. Gallen blieben erfolglos. Am 23. September erschien im Amtsanzeiger ein Steckbrief. Gesucht wurde ein namenloser Knabe mit schwarzem Haar, etwa 14 bis 16 Jahre alt und taubstumm. Die Grösse wurde mit «4 Schuh und 7 Zoll» angegeben, rund 155 cm. Erwähnt wurden «tölpelhafte Züge» und ein «läppischer Gang mit vorhängendem Oberkörper».

Diese Ausschreibung trug wesentlich zum Bekanntheitsgrad des Findlings bei, blieb aber erfolglos. Mehrere Hinweise von Personen, die den Unbekannten im Verlauf des Sommers im oberen Toggenburg gesehen haben wollten, konnten zu dessen Identifizierung nichts beitragen. Die Herkunft des Taubstummen liege im Dunkeln, heisst es in einem Polizeibericht.

Ratlose Beamte vergeben einen Namen

Aus einzelnen sich wiederholenden Bewegungen des Unbekannten wie dem Niederknien und dem Kreuzzeichen schloss man, dass er dem katholischen Glauben angehöre. Die ratlosen Beamten vermuteten, der Junge müsse wohl einer Gruppe von herumziehenden Kesselflickern oder Scherenschleifern angehört haben, die vielleicht vom Rheintal ins Toggenburg gekommen seien und den behinderten Jungen hier zurückgelassen hatten.

Der Gemeinderat von Alt St. Johann wäre einerseits den seltsamen Findling gerne losgeworden, andererseits konnte man dem Kanton eine Rechnung schicken, verrechnet wurden 32 Gulden und 29 Kreuzer. Zum Vergleich: Für 1 Gulden und 30 Kreuzer konnte man eine Kuh eine Woche lang auf einer fremden Wiese grasen lassen oder 45 Kilo günstige Kartoffeln kaufen.

Im August 1845 gab man dem Jungen einen Namen: Er wurde nach dem Namenspatron des Dorfes (Johannes) und dem Fundort (Seluner Alp) Johannes Seluner benannt. 1854 wurde er in das Armenhaus in Nesslau überstellt, das nach einer Änderung der Rechtslage nun als seine Heimatgemeinde galt und seine Unterhaltskosten zu tragen hatte. Jeder Rappen, den die Gemeinde für ihn ausgeben musste, versuchte sie bei den Bezirks- und Kantonsbehörden wieder einzutreiben.

Verlässliche Quellen darüber, wie der Seluner seinen Alltag im Armenhaus verbrachte, gibt es nicht, offenbar war er in den 35 Jahren grösstenteils sich selber überlassen. Der Wahrheitsgehalt oft widersprüchlicher Beobachtungen ist zweifelhaft. So sei zum Beispiel einmal ein vornehm gekleideter Herr gekommen, den der Seluner stürmisch umarmt habe. Anderenorts heisst es, er habe sich zornig auf den Besucher gestürzt.

Oft sei er an der Thur gewesen und habe Holz für das Armenhaus gesucht, mit Kieseln gespielt, stundenlang ins Wasser geschaut. Im Winter sitze er am liebsten auf der Ofenbank, schnurre wie eine Katze und wiege den Kopf hin und her. Er sei sehr stark, mit seinen Kräften könne er Bäume entwurzeln und habe gegen einen Stier gekämpft. Schuhe trage er nie. Bunte Farben möge er nicht, glänzende Knöpfe hingegen nähe er an seine Kleider. Im Garten umkreise er stundenlang denselben Baum, habe mit den Jahren einen Weg ausgetreten. Dies lässt einen traurigen Schluss zu: Man hat ihn wohl am Baum festgebunden.

Niemand kümmerte sich

Ob Johannes Seluner geistig behindert war oder seine Defizite von jahrelanger Vernachlässigung stammten, lässt sich nicht mehr feststellen. Die Heimleiter hatten weder Zeit noch die Ausbildung, um auf die Bedürfnisse ihrer Zöglinge einzugehen oder sie zu fördern.

Ob und wie er sich gegenüber seiner Umwelt verständlich machte, wurde nie dokumentiert, offenbar hatte man sich nie um eine eingehende Verständigung mit ihm bemüht. Auf der einzigen Fotografie von ihm aus der Zeit um 1880 ist ein älterer Mann zu sehen, dessen Gesichtszüge keineswegs auf eine Behinderung schliessen lassen, auch wirkt er nicht im Geringsten tölpelhaft, wie dies ursprünglich im amtlichen Anzeiger vermerkt worden war.

Am 20. Januar 1898, neun Monate vor seinem Tod, wurde Johannes Seluner nach katholischem Ritus getauft, allerdings nicht in der Kirche, sondern im Armenhaus. Götti und Gotte in einer Person war die Vorsteherin des Armenhauses. Pfarrer Eigenmann hielt im Taufregister fest: «Um ihn bei der Taufe ruhig zu halten, liess ich ihm ein Stück Zucker geben, an dem er herumknusperte. Er ist sonst nicht bösartig.»

Am 20. Oktober 1898 starb Johannes Seluner nach kurzer Krankheit. Man beerdigte ihn drei Tage späger unter grosser Anteilnahme der Bevölkerung auf dem Friedhof in Neu St. Johann. In der ganzen Schweiz und weit darüber hinaus erschienen rund 50 Nachrufe, vom «Toggenburger Boten» bis zur «Indiana Tribune», von den «Hamburger Nachrichten» bis zur «Gazette de Lausanne».

Reisserische Berichte

Seluner wurde schon zu Lebzeiten zum Opfer von wilden Spekulationen. Volksschullehrer, Journalisten, Sagenerzähler und Forscher schmückten seine karge Biographie mit zahlreichen reisserischen Elementen aus. Diese beziehen sich auf seine mögliche Herkunft  – «Ist er aus einer Irrenanstalt entflohen?» – und die Umstände der Auffindung sowie auf sein behauptetes Verhalten als «Wilder Mann», «Wolfskind» und «Idiot».

Hinzuerfunden und ebenfalls durch keinerlei Fakten belegt ist etwa, dass der Seluner beim beim Milchdiebstahl – er habe Milch direkt von Eutern der Kühe getrunken – in eine Falle von Sennen gelaufen und so entdeckt worden sei. Ebenso unbewiesen sind seine herbeigeschriebene adelige Herkunft, das Zerreissen seiner Kleider, das tierähnliche Verhalten und seine mit einem Stier vergleichbaren Körperkräfte.

Auch sein Aufenthalt im Wildmannlisloch entbehrt jeglicher Grundlage. Aber noch 2021 schrieb das «Tagblatt», dass Sennen aus Alt St. Johann im Gebiet des Churfirstengipfels Selun einen wilden Mann überwältigt hätten – im originalen Protokoll vom Dezember 1844 hat niemand nachgeschaut.

Zweifelhafte Exhumierung

Auch nach dem Tod des Seluners ging seine traurige Geschichte weiter: Auf Betreiben des Anthropologen Otto Schlaginhaufen, Rassenhygieniker und Direktor des Anthropologischen Instituts der Universität Zürich, wurde Johannes Seluners Skelett  im November 1926 exhumiert. Es sollte ein Zusammenhang zwischen der geistigen wie körperlichen Einschränkung des Betroffenen und Merkmalen von Neandertalern oder fremden Völkern nachgewiesen werden. Die Untersuchungen zeigten allerdings nur altersbedingte Degenerationserscheinungen auf.

Das Skelett wurde dann im Depot des Anthropologischen Instituts in eine Kartonschachtel gelegt und geriet in Vergessenheit. Auf Betreiben des Instituts und mit Unterstützung der Gemeinde Nesslau sowie der katholischen Kirchgemeinde Neu St. Johann wurde Johannes Seluner am 9. September 2021 auf dem Friedhof Neu St. Johann ein zweites Mal bestattet. Eine Vereinbarung zwischen diesen Parteien soll eine erneute Exhumierung verhindern und damit die Totenruhe wahren. Deshalb ist es auch unwahrscheinlich, dass mittels DNA-Proben und einer Isotopenanalyse versucht werden könnte, herauszufinden, wo Johannes Seluner aufgewachsen ist.

Die zweite Beerdigung am 9. September 2021
Die zweite Beerdigung am 9. September 2021 (Foto: Bistum St.Gallen)

Unbehagen bis heute

Die Toggenburger Journalistin und Schriftstellerin Rea Brändle (1954-2019) räumte mit den unsinnigen Geschichten um Johannes Seluner auf: Sie überprüfte alles, was es über ihn zu lesen gibt, auf den Wahrheitsgehalt. Eindrücklich schildert sie in ihrem Buch «Johannes Seluner. Findling. Eine Recherche» (2016), wie aus einem bedauernswerten Menschen das Objekt von Fabuliererei und pietätloser Forschungsgier wurde.  

Brändle beschreibt unter anderem, wie der Seluner bis heute ein gewisses Unbehagen auslöst. Sie berichtet von Gymnasiastinnen aus Davos, die den Konservator des Toggenburger Museums in Lichtensteig anfangs der 1990er-Jahre nach dem Seluner befragten. Dieser habe ihnen aber den entsprechenden Steckbrief nicht zeigen wollen, dafür aber ausführlich über die Toggenburger Lokalheiligen Huldrych Zwingli und Ulrich Bräker referiert. «Er war jemand, für den man sich schämen musste», zitiert Brändle eine Schülerin.

1984 antwortete der ehemalige Kurator des Toggenburger Museums auf eine Anfrage von Rea Brändle: «Rührend, wie Sie sich um den sehr abseitigen Johannes Seluner bemühen.» In der 2003 erschienenen St. Galler Kantonsgeschichte taucht der Seluner nicht etwa in den Kapiteln zum 19. Jahrhundert auf, sondern im prähistorischen Teil im Zusammenhang mit den Ausgrabungen zum Wildmannlisloch, wo der Seluner der Legende nach überwintert haben soll. Trotzdem wird im historischen Standardwerk getitelt: «Die wahre Geschichte des Seluners». Die wirklich wahre Geschichte des Seluners jedoch wird wohl nie erzählt werden können.

Um den Seluner geht es in einer Sendung des Schweizer Fernsehens, ab 1:10:55.

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