Die Einsamkeit der Karin Jacobs
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22. Dezember 2025 – Die Wochenenden sind eine Prüfung, Weihnachten ist die Hölle. Die 90-jährige Karin Jacobs erzählt, wie sie versucht, mit der Einsamkeit in ihrem Leben zurechtzukommen. Manche Tage, erzählt die verwitwete Frau, zögen sich unendlich in die Länge. Dann denkt sie auch mal an Exit.

VON BARBARA LUKESCH
Der Dezember ist der schlimmste Monat, kalt, oft auch nass, früh dunkel, und alles Leben verlagert sich in die Häuser und Wohnungen, wo sich Familien und Freunde zum geselligen Beisammensein treffen. Das ist keine gute Zeit für Menschen, denen die Einsamkeit zu schaffen macht.
Karin Jacobs gehört zu ihnen. Die knapp 90-Jährige ist eine grosse, geschmackvoll gekleidete Frau, deren Augen wach in die Welt blicken. Sie sei gesund, zwar schwerhörig, habe aber trotz ihres Alters keinerlei Schmerzen, auch die Probleme mit den Füssen, die sie eine zeitlang geplagt hätten, habe sie wieder hingekriegt. Auch finanziell könne sie überhaupt nicht klagen: «Es geht mir eigentlich hervorragend.»
Eigentlich? Sie seufzt. Seit dem Tod ihres Mannes vor zehn Jahren sei sie sehr einsam. Richtig schlimm sei es jeweils an den Wochenenden, wenn sich die Tage in die Länge ziehen und sie am Nachmittag kaum noch wisse, was tun. Ihr Telefon läute so gut wie nie. Freundinnen und Freunde, die sie früher einmal hatte, seien weggezogen oder gestorben. Ihre Nachbarin lebe inzwischen im Altersheim.
Wenn sie, die gebürtige Deutsche, die den grössten Teil ihres Lebens in den USA und in Frankreich verbracht habe, Schweizer, mitunter auch Paare, zum Essen einlade, komme es so gut wie nie zu einer Gegeneinladung. Sie zuckt mit den Achseln: «Keine Ahnung warum!» Vielleicht schüchtere ihre grosse, repräsentable Wohnung die Leute ein, vielleicht spiele ja auch mal Eifersucht eine Rolle. Sie wisse es nicht. Karin Jacobs wirkt resigniert.
Als das Leben aus den Fugen geriet
Früher sei ihr Leben sehr bunt und bewegt gewesen. Ihr Mann habe die Musik geliebt und sich ehrenamtlich in einem Musikinstitut in New York engagiert. Auch als sie in die Schweiz gezogen seien, hätten sie regelmässig das KKL in Luzern und die Zürcher Tonhalle besucht. Sie hätten viele Freunde gehabt, das Leben habe pulsiert. Weil ihr Mann viel geschäftlich auf Reisen gewesen sei, habe sie oft ein, zwei Wochen allein in ihrer Zolliker Wohnung verbracht. Damit sei sie allerdings wunderbar zurechtgekommen: «Das Alleinsein hat mir damals nichts ausgemacht.»
Mit dem plötzlichen Tod ihres Mannes, ausgerechnet am 50. Hochzeitstag des Paares, für den bereits ein grosses Fest geplant war, geriet ihr Leben dann allerdings aus den Fugen. Nichts war mehr wie vorher. Zu einem Gedenkanlass, den sie für den Verstorbenen in einem Saal der Tonhalle ausrichtete, seien zwar noch mehr als hundert Gäste aus der Schweiz, den USA und Frankreich nach Zürich gekommen, doch danach war Schluss: «Ich war für diese einstigen Freunde plötzlich Luft.» Kein Anruf mehr, geschweige denn eine Einladung. Das sei eine schockierende Erfahrung gewesen.
Sie sei damals ja bereits 80 gewesen, sagt sie, und habe gemerkt, dass ihr das Alter erstmals zusetzte. Sie mochte sich kaum noch im Spiegel anschauen und tat sich schwer, auf Fotos «dem eigenen Verfall», wie sie es ungeschminkt nennt, zuzuschauen.
Doch irgendwie habe sie ihr Leben wieder auf die Reihe gekriegt: «Jedenfalls einigermassen.» Schnell einmal sei sie der Sterbehilfeorganisation Exit beigetreten. Sie sei zwar nicht selbstmordgefährdet gewesen, habe aber gefunden: «Schaden kann es ja nicht.»
Hoffen auf freundliche Menschen
Abgesehen davon habe sie gemerkt, dass es ihr gut tue, wenn sie nicht ständig allein daheimsitze. So geht sie in der schöneren Jahreszeit bereits morgens um sieben Uhr an den See und schwimmt einige Runden. Dort trifft sie auch mal jemanden und wechselt ein paar Worte. Ihre Einkäufe erledigt sie nicht in Zollikon, sondern lieber im Coop an der Zürcher Bahnhofstrasse, weil sie damit einen kleinen Ausflug verbinden kann und sich unter die Leute begibt.
Wann immer das Wetter es erlaubt, macht sie lange Waldspaziergänge und hofft auf ein, zwei freundliche Menschen, mit denen sie sich austauschen kann. Es sei nicht so einfach, mit den Menschen in der Schweiz in Kontakt zu kommen. Da gebe es grosse Reserviertheit und wenig Platz für Spontaneität, was sie sehr bedaure. Ist es zu kalt oder nass, fährt sie nach Küsnacht in einen Fitnessklub, wo allerdings auch jeder vor sich hinturne und kaum jemand grüsse.
Sie sei auch schon dem einen oder anderen Verein beigetreten. Den Tanzklub habe sie wieder verlassen müssen, weil ihre Füsse damals streikten. Das Turnen in einer Gruppe von fünf bis sechs Frauen sei schwierig geworden, weil sie mit ihrer Schwerhörigkeit die Anweisungen der Trainerin nicht verstanden habe. Ja, und offenbar habe sie dann der Mut verlassen und sie habe keine Alternativen gesucht.
Abends schaue sie Fernsehen und lese viel. Sie habe den «Tages-Anzeiger» und die «New York Times» abonniert und interessiere sich vor allem für deutsche und amerikanische Politik. Von der Schweizer Politik verstehe sie nicht so viel. Sie koche fast jeden Tag für sich, liebe es aber, wenn sie ihren Neffen aus Deutschland auf Besuch habe und ihn ins Restaurant einladen könne.
Weihnachten entfliehen
Richtig schrecklich sei für sie Weihnachten. Sie stöhnt: «Ich hasse Weihnachten.» Feiertag reihe sich an Feiertag, das höre überhaupt nicht mehr auf und das normale Leben komme regelrecht zum Erliegen. In den vergangenen Jahren habe sie jeweils die Flucht angetreten und sei in den Süden geflogen. Doch der zunehmende Overtourismus mache jede noch so schöne Destination kaputt. Letztes Jahr sei sie auf Mauritius gewesen: «Eine Katastrophe! Viel zu voll, ständig laute Musik und kaum noch Möglichkeiten zum Schwimmen.»
Dieses Jahr versuche sie es mit einem Wellnesshotel im Allgäu. Ihr Neffe habe es für sie herausgesucht und werde sie auch in Zollikon abholen und dorthin fahren. Immerhin. Doch das schale Gefühl von Einsamkeit und Traurigkeit lasse sich nicht ganz aus der Welt schaffen. Es gebe Tage vor allem im Winter, da wache sie auf und fürchte sich regelrecht vor der Kälte und den langen Stunden, dir vor ihr liegen: «Die Langeweile kann wirklich quälend sein.» In einem solchen Moment habe sie beschlossen, sich eingehender darüber zu informieren, wie man mit Exit aus dem Leben scheiden könne.
Von ihrer Hausärztin erfuhr sie, dass sie eine Erklärung unterschreiben müsse, dass ihr die Tragweite des Entscheids, eines Tages mit Exit zu gehen, bewusst sei. Dieses sei an die Sterbehilfeorganisation weitergeleitet worden. Als sie dort anrief, erfuhr sie, dass sie von nun an jederzeit auf die Hilfe eines Sterbehelfers zählen könne.
Im Moment habe sie nicht vor, diese Möglichkeit zu nutzen. Aber es entlaste sie, habe sie all das abgeklärt. Jetzt bringe sie erst mal Weihnachten hinter sich und warte dann auf die warme Jahreszeit, ihr morgendliches Bad im See und die ersten Tulpen, die sie auf dem Dorfmarkt kaufen werde.
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