«Die Einsamkeit ist eine grosse Not»

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28. Mai 2025 – Die Menschen werden immer älter. Hundertjährige sind längst keine Seltenheit mehr. Pfarrer Simon Gebs besucht Hochaltrige regelmässig auch im Blumenrain und Rebwies und weiss viel von ihren Freuden und Ängsten. Er schätze viele dieser Menschen, von denen er viel lernen könne.

Pfarrer Simon Gebs (Foto: ZN)
Pfarrer Simon Gebs (Foto: ZN)

INTERVIEW: BARBARA LUKESCH

Simon, was macht auch das Leben hochaltriger Menschen noch kostbar?

Beziehungen zu anderen Menschen, an deren Alltag sie anteilnehmen können. Da wird ein Urenkel geboren, und es gibt eine Taufe zu feiern. Eine Nichte heiratet oder die Enkelin hat ihren Masterabschluss gemacht. Das sind die Highlights, über die man sich auch mit weit über 90 noch freuen kann. Daneben gibt es aber auch die kleinen Dinge, die wertvoll sein können, wenn jemand sie zu schätzen weiss. Neulich kam ich aus dem Blumenrain, als drei Bewohner beim Haupteingang im Rollstuhl an der Sonne sassen und plauderten. Sie kamen mir vor wie zufriedene Sonnenkinder.

Wird man als alter Mensch freier, weil man sich besser von den Erwartungen anderer lösen kann?

Das glaube ich schon. Der Leistungsdruck und die Angst, was die anderen von einem denken könnten, nehmen meiner Erfahrung nach ab. Man verlegt sich mehr auf das «ich darf noch» und kann sich besser abgrenzen vom Zwang des «Ich muss». Wobei es natürlich auch 90-Jährige gibt, die niemandem zur Last fallen wollen, alles noch selber machen und schier Unmögliches von sich verlangen.

…weil sie Angst haben, sonst keine Daseinsberechtigung mehr zu haben?

Genau. Das sind oft diejenigen, die sich immer wieder fragen: Wozu bin ich denn noch da, wenn ich nur noch koste, mein Vermögen aufbrauche und am Schluss sogar noch um Ergänzungsleistungen bei der Gemeinde nachsuchen muss. Ganz zu schweigen davon, dass sich meine Angehörigen ständig um mich kümmern müssen…

…während sie selber nichts mehr zu bieten haben.

Diese Angst besteht bei vielen. Dabei habe ich schon wunderbare Gespräche mit sehr alten Menschen über genau dieses Thema geführt: Wozu sind sie noch da? Ich verweise dann gern auf Robert Walser, den Schriftsteller, der gesagt hat: Du bist da. Das genügt. Es gibt nichts Interessanteres als dazusein. In früheren Lebensphasen lenken uns doch immer tausend Alltagsdinge wie Beruf, Hobbys, Ehe oder Familie von uns und vom Dasein ab. Wie schön, wenn sich das im Alter ändern lässt. Es könnte doch dem Leben alter Menschen einen besonderen Sinn verleihen, wenn sie den Jungen vermitteln würden, wie die Kunst des guten Loslassens und Beendens funktionieren könnte.  

Auch wenn es solche Gespräche gibt, dürfte es Begleiterscheinungen der Hochaltrigkeit geben, die die Betroffenen unvorbereitet treffen.

Die gibt es tatsächlich. Ein grosses Thema, von dem viele überrascht werden, ist die Einsamkeit. Das ist wirklich eine Not. Der Freundeskreis lichtet sich; die Zahl der Todesanzeigen, die man erhält, und die der Abdankungen, die man besucht, nimmt zu, an die jährlichen Klassenzusammenkünfte kommen immer weniger. Wenn sich der Freundeskreis dann auch noch vorwiegend über das Umfeld der verstorbenen Ehepartnerin zusammengesetzt hat, kann man plötzlich sehr allein dastehen. Das ist oft eine schmerzhafte Erfahrung. Und mit über 90 bei abnehmender Mobilität, verstärkter Müdigkeit und anderen gesundheitlichen Problemen nochmal ein neues Freundesnetz zu knüpfen, schafft fast niemand.

Hochaltrigkeit heisst ja auch, dass die Zukunftsperspektiven begrenzt sind. Man macht keine Weltreise mehr, wird auch sicher nicht nochmals studieren oder in eine andere Stadt ziehen.

Schon 80-Jährige sagen mir, es werde alles überschaubarer, und sie würden oft denken: Das könnte das letzte Mal sein, dass ich am Meer bin oder ins Opernhaus gehe oder mit der Familie Weihnachten feiere. Viele reagieren mit einer gewissen Wehmut, auch Melancholie darauf, werden nachdenklich, können aber auch sagen: Es ist okay so. Im Sinne von: Jetzt habe ich so ein schönes Essen genossen, und es bleibt nur noch das Dessert. Das heisst zwar, dass etwas zu Ende geht, aber es kann gleichzeitig bedeuten, dass ich zufrieden und satt bin. Lebenssatt.

In solchen Momenten geht es aber auch immer um Verluste, etwas, was mit Trauer und Schmerz verbunden ist und niemandem leichtfällt.

Das beginnt schon bei der Pensionierung und steht auch mir noch bevor: Wer bin ich denn, wenn ich nicht mehr Pfarrer bin? Über den Beruf bekomme ich so viel Resonanz, Wertschätzung, Bedeutung, ja, letztlich einen wesentlichen Teil meiner Identität. Da kann einem schon unbehaglich werden, wenn ich mir eines Tages die Frage stellen muss: wer bin ich, wenn ich im Rollstuhl sitze und geduscht werden muss?

Welche Art von Menschen schafft es, mit diesen Entwicklungen gut umzugehen?

Schwer zu sagen, aber es gibt sie. Im Blumenrain oder Rebwies erlebe ich immer wieder Hochaltrige, die in sich selbst ruhen und diesen Wandel akzeptieren. Ja, die ihn sogar bewusst gestaltet haben, indem sie beispielsweise proaktiv ihren Führerausweis abgegeben haben oder von ihrem viel zu grossen Haus in eine kleinere Wohnung gezügelt sind. Das sind kleinere oder auch grössere Tode, die das Älterwerden einem zumutet, denn es geht vermehrt um das Loslassen und die Preisgabe von Autonomie. Wer sein Auto abgibt, gibt auch ein Stück weit das Steuer seines Lebens aus der Hand.

Es gibt allerdings auch ziemlich viele alte Menschen, die sich mit genau solchen Entscheiden sehr schwertun und dann noch mit 95 Auto fahren.

Ja, klar, ich erlebe auch solche, die sich mit unserer aller Vergänglichkeit und mit all dem, was das Alter an Herausforderungen und Zumutungen bringt, herzlich wenig auseinandersetzen. Da staune ich manchmal, wie flach deren Lernkurve verlaufen ist. Um so mehr ziehe ich den Hut vor alten Menschen, die mich tief beeindrucken mit ihrer Fähigkeit, sich an dem zu freuen, was noch möglich ist, und nicht verbittern angesichts all jener Dinge und Fähigkeiten, von denen sie sich haben verabschieden müssen.

Vielleicht haben sie Humor.

Das ist eine wertvolle Ressource. Humor schafft eine gesunde Distanz zu all dem, was mühsam, nervig, manchmal auch traurig ist. Wer über sich selber lachen kann, gibt all dem Schweren und Schwierigen, mit dem das Alter nun mal aufwartet, nicht die letzte Macht.

Wer hat mehr Mühe, sich mit Erfahrungen von Schwäche und Fragilität zu arrangieren: Männer oder Frauen?

Tendenziell Männer. Ihr Leben steht nach wie vor ganz im Zeichen von Leistungsfähigkeit und Selbstbestimmtheit. Da schmerzen Erfahrungen besonders, die mit dem Verlust von Fähigkeiten und Autonomie zu tun haben. Oft fehlen ihnen auch männliche Vorbilder, die ihnen gezeigt haben, wie man auf gute Art mit Gefühlen wie Trauer, Wut oder Frust, die wirklich wehtun, umgehen kann.

Wie gestalten Hochaltrige ihren Alltag? Kann auch Langeweile ein Problem für sie sein?

In den Altersinstitutionen wird sehr viel an Aktivierung und Unterhaltung geboten, da staune ich über das attraktive Angebot: Koch-, Tanz-, Gesprächsgruppen, Gymnastik und Turnen, Konzerte oder Lesungen. Da kommt nicht so schnell Langeweile auf. Ob jemand diese Angebote nutzt, hängt natürlich auch vom Gesundheitszustand ab. Selbstverständlich gibt es auch rüstige 95-Jährige, die noch zu Hause leben, sich mit ihren alten Golfkollegen regelmässig zum Essen treffen oder Konzerte besuchen. Zuweilen habe ich bei der Suche nach einem Termin für ein Gespräch gar den Eindruck, dass ihre Agenda fast voller ist als meine. Natürlich gibt es auch das Gegenteil, was ich als wesentlich grösseres Problem wahrnehme, nämlich das Fehlen von Begegnungen, weil immer mehr Menschen im eigenen Umfeld sterben. Wir Menschen sind einfach nicht für den Sololauf geschaffen.

Nun sind es ja nicht nur die Betroffenen selber, die sich mit dem Altwerden schwertun. Auch ihre Angehörigen, Töchter, Söhne, Nichten, Neffen oder Schwiegertöchter können in Krisen geraten.

Ich erlebe es häufig, dass Familiensysteme in solchen Phasen nur sehr beschränkt funktionieren und dass es zu Konflikten, aber auch vorübergehenden oder dauerhaften Kontaktabbrüchen zwischen den Generationen kommen kann. Manchmal aber haben Söhne oder Töchter viel zu hohe Ansprüche an sich. Das kann zu schwerwiegenden Überforderungen führen, vor allem wenn diese Angehörigen selber auch schon Ende 60 oder über 70 sind und gleichzeitig noch irgendwelche Grosseltern-Pflichten zu erfüllen haben. Besonders betroffen sind hier nach wie vor die Frauen, die pflegenden Töchter, die sich die ganze Carearbeit inklusive emotionaler Verantwortung aufbürden oder aufbürden lassen.

Welche Rolle spielt man als Pfarrer im Blumenrain und Rebwies?

Wir Seelsorgende haben uns aufgeteilt und bieten wöchentlich eine Andacht an, halbstündige Gottesdienste, einmal reformiert, einmal katholisch. Dazu führe ich im Blumenrain regelmässig das Gesprächsformat «Reden über Gott und die Welt» durch. Ich schlage ein Thema vor, manchmal kommt es auch von den Teilnehmenden, beispielsweise Glück, Vorbilder, das Weltbild nach dem Zweiten Weltkrieg, Muslime in der Schweiz oder Erfahrungen mit dem Judentum. Wir sitzen im Kreis und müssen uns eng zusammendrücken, weil wir so viele sind. Die BewohnerInnen lieben dieses Gesprächsformat, in dem wir auf Augenhöhe miteinander im Gespräch sind und voneinander lernen können. Dabei fordere ich sie auch gern gemäss meiner Devise «lieber über- statt unterfordern». Darüber hinaus führe ich auch noch Einzelgespräche mit Menschen oder deren Angehörigen, die sich gerade in herausfordernden Situationen befinden.

Inwieweit geht es in solchen Momenten auch um Sterben und Tod?

Das spielt natürlich eine grosse Rolle. Sei es in Zusammenhang mit einem Bewohner, der mit Exit gehen möchte; sei es am Sterbebett, wenn ich merke, dass eine Familie Mühe hat Worte dafür zu finden, dass es bei ihrem Vater oder ihrer Mutter demnächst zu Ende gehen könnte. Dann kann meine Intervention eine Art Raum eröffnen, in dem nochmals wesentliche Gespräche geführt werden können. Dazu halte ich natürlich regelmässig Beerdigungen und Abdankungen für Bewohnende der Heime ab.

Welche Bedeutung hat die Arbeit in den Altersinstitutionen für dich?

Ich würde es wahnsinnig schätzen, wenn ich ein Pensum von 50 Prozent allein für Blumenrain und Rebwies reservieren könnte. In der Stadt Zürich gibt es ja ganze Pfarrämter, die ausschliesslich für die Pflegeinstitutionen da sind. Ich bin unglaublich gern bei den alten Menschen, nicht zuletzt weil ich so viel von ihnen über den Umgang mit unserer Vergänglichkeit lernen kann. Dabei habe ich Männer und Frauen kennengelernt, die ich als Vorbilder und Mutmacherinnen bezeichnen würde.

Spielt der Glaube in dieser Phase des Lebens eine grössere Rolle?

Wir befinden uns in der Postmoderne. Für die einen gewinnt der Glaube an Bedeutung, für die anderen überhaupt nicht. Es wird durchaus geschätzt, wenn ich einmal «Unser Vater» spreche oder ein Lied singe. Das mache ich aber nicht routinemässig, sondern rein situativ, wenn ich das Gefühl habe, dass es in einem bestimmten Moment passen könnte. Manchmal gelingt es mir dann, so etwas wie ein Grundvertrauen anzusprechen, das Gefühl, dass man mit dem Tod nicht ins Nichts fällt, sondern dass da etwas ist, wo man aufgehoben ist. Das finde ich sehr schön.

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