«Ein à la carte-Angebot wäre sinnvoll»

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5. Mai 2025 – Die Stadt Zürich hat mehrjährige Erfahrungen mit Tagesschulen. Zollikon zählt dieses Modell zu seinen Legislaturzielen; mit der Realisierung geht es aber nur schleppend voran. Der Zürcher Stadtrat Filippo Leutenegger schildert, welche Erfahrungen Zürich gemacht hat.

Stadtrat Filippo Leutenegger (Foto: ZN)
Stadtrat Filippo Leutenegger (Foto: ZN)

INTERVIEW: BARBARA LUKESCH

Filippo Leutenegger, wie erklären Sie es sich, dass vor drei Jahren mehr als 80 Prozent der Zürcher Stimmberechtigten der flächendeckenden Einführung von Tagesschulen zugestimmt haben?

Egal ob links oder rechts, SP oder FDP, alle wollten und wollen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern. Mit den Tagesschulen geht das Versprechen einher, dass dies gelingen wird. Unter diesen Umständen ist es logisch, dass es zu einem so klaren Abstimmungsergebnis gekommen ist.

Gemäss der angenommenen Initiative sollen bis in fünf Jahren alle Zürcher Schulen in Tagesschulen umgewandelt werden. Wo stehen Sie heute?

Bis 2030 werden es nicht alle schaffen. Derzeit werden von den knapp über 100 Schulen der Stadt Zürich 47 als Tagesschulen geführt. Es gibt immer wieder viele organisatorische Fragen, die gelöst werden müssen. Schulen, die neu gebaut werden, müssen grösser sein, weil die Betreuungs- und Verpflegungsangebote der Tagesschulen zusätzlichen Platz beanspruchen. Aber wir müssen das Ganze auch pragmatisch anschauen: Wir haben in den Regelschulen heute schon eine Art Tagesschule, denn rund 65 Prozent der Regelschul-Kinder essen bereits in der Schule Zmittag und werden betreut.

Wie viele besuchen denn heute schon eine klassische Tagesschule?

Von den insgesamt rund 36’000 besuchen derzeit rund 13’000 eine Tagesschule. Die Abmeldequote ist gering. In der Primarschule nehmen rund 90 Prozent die Betreuung in Anspruch. Auf der Sekundarstufe liegt die Quote bei 72 Prozent, weil die Schüler älter sind und vermehrt auswärts essen gehen. Was man nicht vergessen darf: Der Besuch einer Tagesschule ist freiwillig, was ich sehr wichtig finde.

Wie teuer kommen Tagesschulen die Stadt Zürich zu stehen?

Es ist ein grosser Kostenblock. Die Bürgerlichen haben seinerzeit gesagt: Tagesschulen ja, aber bitte einfach und günstig. Die Linke hat gesagt: Ausbauen und die Stimmberechtigten haben sich für die teurere Variante entschieden.

Was heisst das konkret?

Wir haben parallel zwei Systeme, die wir auf der grünen Wiese nie so bauen würden. Bei den sogenannt ungebundenen Mittagen, nach denen anschliessend kein Unterricht mehr stattfindet, ist die Bezahlung einkommensabhängig. Bei den gebundenen Mittagen gelten hochsubventionierte Pauschalen. Der Stadtrat wollte seinerzeit 9 Franken pro Essen und Kind inklusive Betreuung, um wenigstens den Warenwert zu finanzieren. Das Parlament und letztlich auch das Volk haben sich für die hochsubventionierte «6 Franken-Variante» entschieden.

Warum finden Sie dieses Modell so problematisch?

Wir haben mit dieser Lösung zwei parallele Systeme, die administrativ einen grossen Aufwand verursachen. Überdies ist es in meinen Augen nicht sinnvoll, dass wir die hohen Einkommen noch zusätzlich subventionieren. Zürich hat sich trotzdem dafür entschieden, also muss man es akzeptieren. Es kostet einfach sehr viel mehr Geld.

Werden Sie doch etwas konkreter: Zürich hat mit 1,3 Milliarden Franken einen riesigen Jahresetat für die Schulen. Um wieviel ist der mit den Tagesschulen gewachsen?

Bei einem Vollausbau ab 2030/31 steigen die Kosten um jährlich rund 130 Millionen Franken. 

Was kostet es die Eltern, wenn sie ihre Kinder an den unterrichtsfreien Nachmittagen in der Schule betreuen und über Mittag dort essen lassen?

Wir bieten bis spätestens 18 Uhr Betreuung an. Wer sein Kind bis 16 Uhr in der Schule lässt, zahlt im Minimum 6.50 Franken und maximal 38 Franken. Bleibt ein Kind bis 18 Uhr, zahlen die Eltern mit den tiefsten Einkommen 8.50 Franken und die hohen Einkommen im Maximum 58 Franken pro Kind und Tag. Die 6.50 oder 8.50 decken den Aufwand für das Essen nicht. Das heisst, die Stadt zahlt massiv drauf.

Und wie sieht es an den gebundenen Mittagen aus, nach denen der Unterricht fortgesetzt wird?

Wenn keine Abmeldung erfolgt, zahlen alle Eltern, unabhängig von ihren Einkommen, pro Kind und Tag 6 Franken, den Rest zahlen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Von 16 bis 18 Uhr werden an den Tagesschulen einkommensabhängige Tarife von 2 bis 20 Franken verlangt.

Welche baulichen Massnahmen sind erforderlich, wenn man eine klassische Tagesschule einrichten will?

Wenn eine Tagesschule entsteht, gibt es mehr Kinder, die betreut werden müssen. Das ist die logische Folge eines Modells, in dem alle angemeldet sind, es sei denn die Eltern melden ihre Kinder ausdrücklich ab. Es braucht also mehr Platz: für Gruppen- und Zusatzräume sowie natürlich für die Mensa und die Küche.

Welche personellen Massnahmen sind erforderlich? Wer leistet die Betreuungsarbeit?

Dafür beschäftigen wir Fachpersonen Betreuung, die eine dreijährige Lehre gemacht haben. Die Idee, dass die Lehrpersonen auch diese Aufgabe noch wahrnehmen, mag für die Steinerschule und andere alternative Schulen gelten. Bei uns ist das nicht so; wir brauchen alles in allem rund 3500 Personen im Betreuungsbereich. Die überwiegende Mehrheit arbeitet Teilzeit. Nur knapp 10 Prozent arbeiten 80-100 Prozent. 

Was bringen Tagesschulen? Lässt sich dieser Nutzen bereits quantifizieren?

Wir haben damit sicher die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert. Inwiefern die Erwerbstätigkeit der Frauen deshalb zugenommen hat, ist noch unklar. Das werden wir in Zukunft besser einschätzen können, wenn das Angebot länger und breiter umgesetzt wird.

Die Gemeinde Zollikon zählt die Einführung der Tagesschule zu ihren Legislaturzielen. Was sind die grössten Hürden, um dieses Ziel zu erreichen?

Eine Gemeinde, die eine neue Tagesschule baut, sollte sich für ein möglichst einfaches System entscheiden. Und einfach heisst für Zollikon gemäss meiner Einschätzung, dass man einkommensabhängige Tarife einführt. Dabei sollte man dafür sorgen, dass die Betreuung einen gewissen Deckungsgrad hat und die Tarife nicht zu tief sind.

Es besteht offenbar die Schwierigkeit, dass einige Eltern ihre Kinder nicht über Mittag in der Schule lassen wollen, die Kinder sich dann aber abgehängt fühlen von all den lustigen Sachen, die in dieser langen Pause passieren. Wie gehen Sie damit um?

Nicht alle Kinder sind an der Tagesschule glücklich. Es gibt auch Kinder, die Mühe haben mit dem ständigen Betrieb und dem teilweise hohen Geräuschpegel und daher etwas mehr Ruhe brauchen. Darum muss der Besuch der Tagesschule auch unbedingt freiwillig sein. Es darf auf keinen Fall einen Zwang geben. Das würde der Kanton auch gar nicht zulassen.

In Zollikon hat die Schulpflege den Begriff Tagesschule gestrichen und spricht nun von «erweiterter Tagesstruktur». Können Sie sich diesen Entscheid erklären?

Meine Vermutung ist, dass es um die Frage geht, ob man eine Luxuslösung schaffen will mit pädagogischem Konzept auch über Mittag oder ob man eine einfache Betreuung mit Mittagessen anbietet.

Stehen Tagesschulen denn im Verdacht, linke Einrichtungen zu sein, die den Einfluss der Eltern beschneiden wollen?

Es ist natürlich schon so, dass der Einfluss der Institution umso grösser ist, je länger ein Kind in der Schule weilt. Gewisse Eltern wollen das nicht. Sie wollen eine einfache, überschaubare Betreuung. Man sollte sich einem solchen neuen Schulmodell langsam annähern, sich gut informieren und Fehler vermeiden, die andernorts gemacht wurden.  

Was würden Sie der Zolliker Schulpflege empfehlen?

Ich kann anderen Gemeinden nichts empfehlen. Aber so wie ich Zollikon einschätze, müsste man keinen Vollausbau machen wie in Zürich, sondern eine einfache Tagesstruktur anbieten, wo die Kinder essen können, auch an den ungebundenen Mittagen, und wo man sich anmelden muss, aber auch wieder abmelden kann. Ich glaube, in Gemeinden, in denen die Leute grossen Wert auf ihre Individualität legen, wollen Eltern wählen können. Darum wäre ein à la carte-Angebot sinnvoll.

Die Schule Zollikon hat laut eigenen Angaben «eine Projektleitung angestellt», die sich mit dem Thema erweiterte Tagesstrukturen beschäftigt. Diese Stelle wurde von der Schulpflege im Februar befristet bis zum Ende der Legislatur (2026) genehmigt. Die Projektleitung befasst sich mit der Planung und Erarbeitung der nächsten Schritte. Sie wird durch das Beratungsunternehmen Infras, das auch auf Schulstrukturen spezialisiert ist, auf Mandatsbasis unterstützt. Momentan gebe es dazu keine weiteren Auskünfte, heisst es von Seiten der Schule. (BL)

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