Ein Dream-Team der besonderen Art
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30. Mai 2025 – Die 22-jährige Studentin Victorine Fux ist Autistin. Sie hat einen Vertrauenshund: Milu. Dank ihm kann sie entspannter am öffentlichen Leben teilnehmen. Es sei wunderbar, erzählt sie, diesen treuen Begleiter an ihrer Seite zu haben.

VON BARBARA LUKESCH
In dieser Geschichte ist für einmal ein Hund der Star: Milu, ein dreijähriger schwarzer Wasserhund, der nach einem einjährigen Junghundetraining in einer darauf spezialisierten Familie und der achtmonatigen Ausbildung an der Hundeschule Liestal BL heute als Vertrauenshund für Menschen im autistischen Spektrum seinen Dienst verrichtet.
Victorine Fux, Medizinstudentin an der ETH Zürich und Autistin, ist mehr als glücklich, dass ihr nach einer mehrjährigen Wartezeit und sorgfältiger Abklärung der liebenswürdige Rüde zugeteilt worden ist, der fast nie bellt, sehr hübsch und sehr zutraulich ist.
Die 22-Jährige, die mit einer Kollegin und einem Kollegen in einer WG in Zollikon wohnt, betont, dass Milu und sie ein harmonisches Team seien: «Milu erfüllt meine Wünsche freiwillig.» Er wedele gut gelaunt mit dem Schwanz, wenn sie mit der Leine in der Hand signalisiere, dass sie aufbrechen. Längst weiss er, dass dann etwas läuft. Entweder geht es an die Arbeit oder er habe «frei» und könne herumrennen, schnüffeln und mit anderen Hunden spielen.
Sie spreche nicht gern von Befehlen oder Kommandos, sagt sie am grossen Tisch in ihrer WG, sondern eher von Hörzeichen, mit denen sie Milu mitteile, was sie von ihm erwarte. In der Öffentlichkeit, ganz besonders in Tram oder Bus oder im Vorlesungssaal, wo sich viele Leute befinden, sei sie stark auf seine Hilfe angewiesen. In solchen Situationen sei sie schnell überfordert, bekomme auch mal eine Panikattacke und müsse sich auf ihn verlassen können.
Milu versteht Italienisch
Wie hilft er ihr dann? Was kann er tun, um sie zu beruhigen? Milu versteht inzwischen rund vierzig Hörzeichen, die Victorine ihm meistens auf Italienisch vermittelt, weil die vielen Vokale der romanischen Sprache es für ihn leichter machen, die einzelnen Wörter zu unterscheiden. In einem Moment, in dem sie sehr unruhig sei, vielleicht zittere und sich kurz vor einem Shutdown, einem Zustand völliger Erschöpfung, befinde, setze sie sich auf einen Stuhl und rufe «ponte». Daraufhin komme er nahe an sie heran und lege sich über ihre Beine – wie eine Brücke. Wenn sie nachts nicht schlafen könne, ein Problem, mit dem viele autistische Menschen zu kämpfen haben, führe «ponte» dazu, dass er sich mit seinem ganzen Körper über sie drüberlege: «Das wirkt», lacht sie.
Heikel seien für sie auch Situationen, in denen ihr jemand zu nahekomme. Das könne zum Beispiel im Tram passieren, wo sich Milu dann zwischen sie und die fremde Person schiebe, sobald er «fronte» höre. Er wisse auch, dass er an ihrer linken Seite laufen müsse, wenn sie «piede» sage, an der rechten, wenn er «gambo» höre, ihr die Leine bringen solle, wenn sie «guinzaglio» rufe oder pinkeln gehen solle, wenn das frei erfundene «stacca» ertöne. Nach und nach bringe sie ihm weitere Hörzeichen bei. Das sei eine Art Training, das ihn animiere und ihm Freude bereite.
Als das Kartenhaus zusammenbrach
Victorine Fux weiss erst seit ihrem 18. Lebensjahr, dass sie Autistin ist. Es sei typisch, dass Frauen die Diagnose spät erhielten, weil sie sich im Gegensatz zu Knaben beziehungsweise Männern eher angepasst verhielten und ihr Leiden gut kaschierten. Sie habe genauso gelebt. Dazu war sie eine ausgezeichnete Schülerin – kein Grund also für ihre Eltern, sich Sorgen zu machen.
Doch als sie eine schlimme Gehirnerschütterung erlitten habe, sei ihr «Kartenhäuschen» zusammengebrochen, und sie habe im Spital vor lauter Überforderung drei Tage lang nur noch geweint. Nach der Matura habe sie dann mehrere Monate in einer psychiatrischen Therapiestation verbracht, wo sie erfuhr, dass sie Autistin sei, und Gelegenheit hatte, sich mit dieser wichtigen Erkenntnis auseinanderzusetzen: «Diese Zeit war unglaublich wertvoll für mich und hat mir geholfen, diese Identitätskrise zu überwinden und die Besonderheiten, also die Stärken und Schwächen, aber auch den Unterstützungsbedarf meiner autistischen Persönlichkeit anzuerkennen.»
Sie las alles zum Thema, was ihr in die Finger kam. Schnell wurde ihr klar, dass sie nicht etwa eine Krankheit habe, sondern eine sogenannte Neurodivergenz, das heisst ein Gehirn, das gewisse Unterschiede zu den Gehirnen der Mehrheit der Leute aufweist und die Welt auf eine ganz eigene Art wahrnimmt.
Bei ihr zeigen sich diese Unterschiede beispielsweise darin, dass sie anders, direkter, präziser, aber auch besonders ehrlich kommuniziere. Weil ihr eine gewisse Intuition für das Verständnis nonverbaler Kommunikation wie Mimik, Körpersprache oder Sprachmelodie fehle, können Gespräche in Gruppen sie sehr viel Energie kosten: «Dabei versuche ich nämlich permanent, diese verschiedenen Signale zu analysieren und zu interpretieren, und zwar mittels logischem Denken und gesammelter Erfahrungen ähnlicher sozialer Situationen.» Was ihr durch die andersartige Vernetzung ihres Gehirns auch häufig passiere, sei, dass sie in Gesprächen plötzlich ein für die anderen völlig überraschendes, durchaus erfrischendes Thema anschneide.
In den Vorlesungen an der ETH sei es schwierig für sie, wenn die Dozierenden darauf verzichteten, einen Überblick über ein Thema zu geben. Wenn sie dann aus den Details eines Themas erst auf das grosse Ganze schliesse, könne es passieren, dass sie in diesen Details versinke und die Fülle kaum mehr bewältigen könne. Leichter falle ihr die Aufnahme von neuem Stoff, wenn sie die Vorlesungen allein online verfolgen könne. Dann lasse sie eine Lektion in einer ruhigen Umgebung in doppelter Geschwindigkeit laufen, was sie daran hindere, an weniger Wichtigem hängenzubleiben oder aus Langeweile gedanklich abzuschweifen.
Dazu sei bei ihr der Filter nur schwach ausgebildet, der Reize wie Licht, Gerüche, Töne und Geräusche und Berührungen so dosieren könne, dass sie bei ihr in einem verträglichen Mass ankämen. Die Folge? «Ich werde von Reizen überflutet.» In einem Kleidergeschäft beispielsweise, wo Hintergrundmusik läuft, grelles Licht herrscht, starke Gerüche der neuen Kleider oder vom Parfüm der Kundinnen in der Luft hängen, werde es ihr körperlich schlecht, und sie müsse den Laden fluchtartig verlassen. Nachher sei sie mitunter mehrere Tage lang völlig erledigt und brauche viel Ruhe.
Sie betont allerdings, dass es auf einem Waldspaziergang auch schön sein könne, ganz besonders deutlich zu hören, wie die Vögel zwitscherten, das Unterholz knacke und sich ein Feld mit Gräsern im Wind bewege. Dieser Besonderheit ihrer Wahrnehmung verdanke sie auch ihre grosse Musikalität und die Leichtigkeit beim Erlernen von Instrumenten: sie spielt hauptsächlich nach Gehör Cello, aber auch Bratsche und ein bisschen Geige, Klarinette und Klavier.
Der «Orchesterhund», den alle mögen
Dass sie als Cellistin sogar in einem 60-köpfigen Orchester mitspielen könne, bereite ihr viel Freude. Es sei neben ihrem anstrengenden Studium allerdings auch schwierig, die dafür nötigen Ressourcen aufzubringen. Schliesslich ist der Kontakt mit vielen Menschen für sie eine der kräfteraubendsten Erfahrungen. Was sie nicht besonders gern mache und mangels Übung auch nicht wirklich beherrsche, sei Small Talken. Um auf diesem Gebiet Fortschritte zu machen, habe sie sogar den Kurs «Kompass» besucht, den die Kinder- und Jugendpsychiatrie Zürich speziell für autistische Menschen anbietet.
Richtig geholfen habe ihr aber erst, dass sie Milu an alle Proben, aber auch an die Konzerte mitnehmen könne: «Er ist unser Orchesterhund, den alle kennen und mögen.» Sei er dabei, würden ihn die Anwesenden sofort bemerken und sie in ein Gespräch über den «herzigen Hund» verwickeln: «Dann habe ich meine Standardantworten parat und gehe mein Small Talk-Problem entspannter an.»
Wie kommt man überhaupt auf die Idee, sich um einen Vertrauenshund zu bemühen? Victorine lacht. Sie habe sich schon als Kind einen solchen Hund gewünscht, weil sie ein grosses Bedürfnis nach vertrauter Begleitung und Freundschaft verspürt habe, und weil ihr die Beziehung zu Tieren oft leichter gefallen sei als zu Menschen: «Ich habe mich als Kind nicht selten sehr einsam gefühlt, weil ja niemand wusste, was mit mir los war, und ich selber auch nicht ausdrücken konnte, was genau bei mir anders war.»
Als die Diagnose Autismus dann da war, habe sie nach Assistenzhunden gegoogelt. Sie hatte Glück. Seit 2020 macht die Hundeschule Liestal, die spezialisiert ist auf Blindenhunde, auch dieses Angebot – unter dem Namen «Vertrauenshund». Eine Stiftung übernimmt den stolzen Betrag von mindestens 50’000 Franken, der nötig ist, um die Tiere in fast zwei Jahren auf ihre grosse Aufgabe vorzubereiten.
Victorines Wunsch: «Weniger Vorurteile»
Milu sei erst der sechste Hund gewesen, der in der Schlussprüfung zeigen durfte, dass er das korrekte Verhalten eines Vertrauenshundes beherrsche. Er bleibe sitzen, wenn gewünscht, lasse sich von nichts ablenken, schnappe in einem Laden nicht nach irgendwelchen Esswaren, die für ihn in Reichweite wären, belle niemanden an, auch keine Velofahrer, und reagiere konzentriert auf alle eingangs geschilderten Hörzeichen. Eine seiner grossen Qualitäten sei auch, dass er sie in einem Gebäude sicher zum Ausgang führe, wenn es ihr schlecht gehe.
Sie sei unglaublich froh, dass sie ihn habe. Er sei zu allem hin auch noch ein sehr kuscheliger Hund, was ihr viel Körperkontakt beschere. Etwas, was sie mit Menschen oft vermeide, weil sie es «ganz unangenehm» finde.
Milu könne, wenn alles gut gehe und er gesund bleibe, bis zu seiner Pensionierung mit rund 11 Hundejahren bei ihr bleiben. Das sei eine schöne Aussicht, sagt sie. Was sie sich für ihre Zukunft auch noch wünscht, sei mehr Verständnis für Menschen im Autismus-Spektrum und weniger Vorurteile. Sie sei gern bereit, ihren Teil zur Aufklärung beizutragen. Darum lasse sie sich auch porträtieren und betreibe gemeinsam mit ihrer WG-Kollegin Alicia Luther einen Milu-Instagram-Kanal: Milu-mein-Vertrauenshund
Was besonders schön ist: Victorine wird ab Oktober für die «ZollikerNews» in unregelmässigen Abständen ein Tagebuch über ihr Leben mit Milu schreiben. Willkommen, Victorine und Milu! Wir freuen uns auf eure Beiträge.

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