«Ein Mann kann zerstört, aber nicht besiegt werden»

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Andreas Brunner: «Es muss während meiner Zeit im Gymnasium gewesen sein, ich war wohl 15 oder 16 Jahre alt, als ich erstmals Ernest Hemingways kurzen Roman ‹Der alte Mann und das Meer› gelesen habe. Das kleine Büchlein begeisterte mich. Die Sprache ist (…)

VON ANDREAS BRUNNER

Es muss während meiner Zeit im Gymnasium gewesen sein, ich war wohl 15 oder 16 Jahre alt, als ich erstmals Ernest Hemingways kurzen Roman ‹Der alte Mann und das Meer› gelesen habe. Das kleine Büchlein begeisterte mich. Die Sprache ist kristallklar; ich verstand auch als Jugendlicher jedes Wort, jeden Gedanken.

Dank der anschaulichen Beschreibungen läuft das Geschehen wie ein Film vor dem inneren Auge ab: Im Zentrum der alte kubanische Fischer Santiago, der 84 Tage erfolglos aufs Meer hinausgefahren und jedes Mal ohne Fang heimgekehrt war. Am 85. Tag dann die ersehnte Wende: ein Fisch beisst an, und zwar ein riesengrosser Marlin, der den alten Mann in einen mehrtägigen Kampf verwickelt. Letztlich gelingt es Santiago, den Fisch mit seiner Harpune zu töten und ihn an der Seite des Bootes festzubinden. Doch auf der Rückfahrt greifen Haie an und fressen den Kadaver bis aufs Skelett. Santiagos neuerliches Scheitern verwandelt sich am darauffolgenden Tag in einen unerwarteten Triumph, steht doch das halbe Dorf vor seinem Boot und bewundert das Riesenskelett. Diese Erfahrung umschreibt Hemingway im genialen Satz: ‹Ein Mann kann zerstört, nicht aber besiegt werden.›

Die Figur des unbeugsamen Fischers, der über einen enormen Durchhaltewillen verfügt und sich auch nicht von Rückschlägen entmutigen lässt, hat mich sehr berührt. Ich habe es als regelrecht vorbildlich empfunden, wie er auch in Niederlagen die Ruhe, aber auch seine Professionalität bewahrt. Aufgeben ist für Santiago in keinem Moment eine Option, und dies im Alter von über 80 Jahren. Wenn das keine Ode an das Leben ist!

Hemingway war selbst auch Hochseefischer. Das merkt man jeder Zeile an. Er kennt das ruppige, kräftezehrende Handwerk, aber auch das Meer mit seiner unergründlichen Tiefe. Er ist ein grossartiger Beobachter und schildert die Natur, jeden Fisch und jeden Vogel, aber auch das Wetter so präzise, dass man sich als Leser mitten im Geschehen wähnt.

Der Schriftsteller beschreibt meisterhaft den gewaltigen, unheimlich spannenden Kampf zwischen dem Fischer und dem Fisch, den er fangen muss um nicht zu verhungern. Diese Schilderung faszinierte mich schon als Jugendlicher, weil sie bei aller Brutalität von grossem Respekt gegenüber dem Fisch geprägt ist. Ja, der Marlin muss sterben, aber Santiago begegnet ihm auf Augenhöhe, was im Satz gipfelt: «Er ist mein Bruder.» Da wirft jemand einen anderen Blick auf das Verhältnis Mensch-Tier, keinen kitschig-sentimentalen, aber doch einen, der mich die Schlachthöfe und die Riesentrawler, wie sie heute in der Hochseefischerei eingesetzt werden, seither mit anderen Augen betrachten lässt.

Im Sommer 2023 schenkte mir Valentin Roschacher, der ehemalige Bundesanwalt, mit dem mich eine langjährige Freundschaft verbindet, den Hemingway-Roman zum Geburtstag. Wir schenken einander schon seit vielen Jahren Bücher, eine Zeit lang aktuelle, die wir für lesenswert halten, seit ein paar Jahren Klassiker, die uns in guter Erinnerung sind. Erfreut nahm ich das Büchlein zur Hand und las es in einem Zug durch. Mit meinen 75 Jahren bin ich nun, knapp sechs Jahrzehnte nach der ersten Lektüre, fast schon in dem Alter von Santiago. Erst jetzt fiel mir auf, dass der alte kubanische Fischer weder auf eine AHV noch eine Pensionskasse zählen konnte; er musste auch im hohen Alter noch aufs Meer hinaus und sein Leben riskieren.

Mit geschärfter Aufmerksamkeit nahm ich auch diesen Satz zur Kenntnis: ‹Niemand sollte im Alter allein sein, aber es ist unvermeidlich.› Oder die Einsicht, dass ein Mann im Alter auf die Hilfe anderer angewiesen sei. Santiago hat in seinem ehemaligen Lehrling Manolin, der ihn wie ein Sohn liebt, diese Hilfe. Zu Beginn der Geschichte war sie noch in Frage gestellt, weil Manolins Vater ihn nicht länger mit dem erfolglosen Alten aufs Meer hinausfahren liess. Santiago musste allein los. Doch am Ende stellt der Junge in Aussicht, dass er seinen Lehrmeister künftig wieder begleiten werde. Die Schilderung dieser fast romantischen Beziehung könnte auch kitschig wirken. Nichts davon bei Hemingway, der auch hier seinem schnörkellosen, fast lapidar anmutenden Stil treu bleibt.

Das 150 Seiten umfassende Bändchen hat nichts von seiner Wirkung auf mich eingebüsst. Es bietet einfache Lektüre, aber keineswegs leichte Kost. Mich hat es schon als Jugendlicher, aber noch mehr nun im Alter zum Nachdenken über meine eigene Lebensbewältigung angeregt.  Das ist viel und dafür bin ich dankbar.»

Ernest Hemingway, Der alte Mann und das Meer, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg

Andreas Brunner (Jg. 1949) ist Jurist und war von 2005 bis 2014 leitender Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich. Heute übernimmt er nach wie vor verschiedene Mandate in seinem Fachgebiet. Er ist Vater zweier erwachsener Kinder und lebt in Zürich. Literatur begeistert ihn seit vielen Jahren. 

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