Ein Roman über die Macht uralter Konflikte
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Corinne Hoss-Blatter: «Ein Buch zu verschenken, ist ja fast so persönlich und obendrein riskant, wie ein Parfum zu verschenken. Deshalb war ich sehr gespannt, als ich von meiner Freundin das Buch ‹Am Himmel die Flüsse› von Elif Shafak erhielt. Der Klappentext schien mir (…)
VON CORINNE HOSS-BLATTER
Ein Buch zu verschenken, ist ja fast so persönlich und obendrein riskant, wie ein Parfum zu verschenken. Deshalb war ich sehr gespannt, als ich von meiner Freundin das Buch ‹Am Himmel die Flüsse»› von Elif Shafak erhielt. Der Klappentext schien mir etwas esoterisch und spirituell, aber ich bin grundsätzlich offen und begann mit Freude die Lektüre. Schon die ersten Seiten zogen mich in ihren Bann; ich bemerkte allerdings schnell, dass ich da keine leichtfüssige Lektüre vor mir hatte.
Elif Shafak, eine der bedeutenden Autorinnen der zeitgenössischen Literatur, verwebt in ihrem Roman drei Erzählstränge. Sie sind jeweils an eine Hauptfigur gebunden. Da ist einmal Arthur Smyth, ein Junge im viktorianischen London, der in ärmsten Verhältnissen aufwächst, sich aber dank seines ihn von Kindheit an begleitenden riesigen Interesses an der Keilschrift und am ‹Gilgamesch›, dem altmesopotamischen Helden-Epos, zu einem angesehenen Assyrologen entwickelt.

Dann erleben wir mit Narin, einem ezidischen Mädchen, welches also einer ethnisch-religiösen Minderheit angehört, wie es im Jahre 2014 zuerst wegen eines Staudammprojektes am Tigris aus seiner Heimat vertrieben wird und später vor dem IS fliehen muss. Trotz Flucht, einer fortschreitenden Schwerhörigkeit und dem Verlust der geliebten Grossmutter möchte es unbedingt die Geschichte seiner Ururgrossmutter aufdecken.
Und schliesslich ist da die Hydrologin Zaleekhah Clark 2018 in London, die sich mit den ökologischen und emotionalen Strömungen der Gegenwart auseinandersetzt, aber gleichzeitig ein Kindheitstrauma verarbeiten muss.
Das zentrale Motiv, das diese drei Erzählstränge verbindet, ist das Wassermolekül H2O, wobei jedes Atom einem Protagonisten zugeordnet wird. So steht das Wasser als Metapher für Verbindung, Transformation, Erinnerung, Rätselhaftigkeit, Leben und Sterben, weist also ein breites Spektrum an Symbolik auf.
Shafak gelingt es in diesem Roman, sehr komplexe und aktuelle Themen wie Umweltzerstörung, Kolonialismus, kulturelle Auslöschung respektive die Verfolgung von Minderheiten mit Hilfe einer spannenden Struktur zu verflechten und historische Fakten und Fiktion zu verbinden. Das Werk hat historische Tiefe (hervorragend recherchiert, darf ich als Historikerin anmerken), politische Relevanz, mystische Symbolik und lebt von einer poetischen Erzählweise.
In Strassburg geboren, in Madrid, Ammann und Ankara aufgewachsen, promovierte die Politikwissenschafterin und lehrte und lehrt an verschiedenen Universitäten in der Türkei, den USA und in Grossbritannien. Shafak bringt einen beeindruckend grossen Rucksack an Wissen und Erfahrung mit. Aus meiner Sicht dürfte dies Einfluss auf ihre Bücher haben; ich komme nicht darum herum zu sagen, dass weniger manchmal mehr wäre. Der Roman wirkt überfrachtet. Es braucht ein sehr konzentriertes Lesen, um die Menge an Themen zu verarbeiten sowie die vielen Perspektivenwechsel und Zeitsprünge nachzuvollziehen.
Mein persönliches Fazit: ‹Am Himmel die Flüsse› ist ein anspruchsvoller, tiefgründiger Roman. Mir gefällt der wiederkehrende Wassertropfen als symbolische Verbindung. Die nichtlineare Struktur des Romans finde ich sehr ansprechend und die Schicksale der Figuren berühren mich. Stilistisch erkenne ich einen gewissen Hang zur Sentimentalität; solche Passagen hätte ich mir manchmal etwas weniger ‹süss› gewünscht. Ich habe mich auf die Fülle der Themen eingelassen und mich am kulturellen Tiefgang der Lektüre erfreut. Das Buchgeschenk war ein voller Erfolg.»
Elif Shafak, «Am Himmel die Flüsse», Hanser Verlag