Erkenntnisse über Frauen auf Kreta
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René Staubli: «Ich war 30 Jahre alt, als mich meine damalige Freundin nach siebenjähriger Beziehung verliess. Nachdem ich von einer mehrmonatigen USA-Reise zurückgekehrt war, merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich sprach sie darauf an, bekam aber nur (…)
VON RENE STAUBLI
Ich war 30 Jahre alt, als mich meine damalige Freundin nach siebenjähriger Beziehung verliess. Nachdem ich von einer mehrmonatigen USA-Reise zurückgekehrt war, merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich sprach sie darauf an, bekam aber nur ausweichende Antworten. Irgendwann gestand sie ein, eine Beziehung mit einem anderen Mann zu haben. Als sie packte und ging, stürzte ich in die Krise meines Lebens. Das war im Dezember 1982.
Anfang 1983 sollte die Ringier-Journalistenschule beginnen und damit ein neuer Abschnitt meines Lebens. Ich hatte an der Mittelstufe fünf Jahre lang unterrichtet, wollte umsatteln und etwas Neues erleben. Wie sollte ich die Festtage verbringen, fragte ich mich, wie mit diesem Verlust fertigwerden, der mich fast vollständig lähmte? Was mich am meisten umtrieb, war die Frage, warum mich das Ende unserer Beziehung so vollständig überrumpelt hatte. Warum hatte ich nicht gemerkt, was in meiner Freundin offenbar schon seit längerer Zeit vorging?

Ich buchte einen Flug nach Kreta und kaufte mir das Buch ‹Una Donna – Geschichte einer Frau› von Sibilla Aleramo. Der autobiografische Roman war 1906 erschienen, 1973 neu aufgelegt und in feministischen Kreisen positiv besprochen worden; mein Exemplar war eines aus der dritten Auflage von 1978. Ich erhoffte mir Antworten auf drängende Fragen: Wie denken Frauen? Was bewegt sie? Was bedeutet der Begriff ‹Emanzipation›? Was wollen die Feministinnen von uns Männern? Welche Fehler habe ich gemacht? Wie kann ich sie künftig vermeiden?
‹Una Donna› spielt im Süden Italiens. Die Protagonistin heiratet mit 16 Jahren einen Angestellten, der in der Fabrik ihres Vaters arbeitet, zuhause sehr autoritär auftritt und kaum mit ihr spricht. Sie bekommt ein Kind und leidet immer stärker unter dem provinziellen, engen Milieu, das den Frauen keine Selbstverwirklichung erlaubt. Der Egoismus ihres Mannes und die Aufgaben als Mutter verlangen von ihr die totale Selbstverleugnung. Nach einem ‹mühevollen und schmerzhaften Prozess› verlässt sie ihren Mann, sie muss ihr Kind zurücklassen, das ist der Preis für ihre «geistige und gefühlsmässige Unabhängigkeit», wie ich auf dem Einband las. Das Buch schien mir für meine Zwecke bestens geeignet.
Kreta war im Dezember 1982 furchtbar trist, unbelebt und grau. Ich nahm mir in einem abgelegenen Dorf in einer kargen Pension ein Zimmer mit klammen Leintüchern auf einem schmalen Bett. Jeden Morgen ging ich einige hundert Meter zur felsigen Küste, suchte mir einen einigermassen bequemen Platz hoch über dem Meer und las ‹Una Donna›, unterstrich mit einem Bleistift Passagen, die ich mir merken wollte, dachte nach, arbeitete mich durch das Buch, nahm es abends mit in die einzige Taverne, die es im Dorf gab, ass dort lauwarme gefüllte Tomaten, trank ein Glas Rotwein und las weiter, fünf Tage lang.
Allmählich wurde mir klar, warum meine Beziehung gescheitert war. Ich hatte im Lauf der Jahre immer weniger mit meiner Freundin geredet, hatte ihr kaum mehr richtig zugehört. Ich hatte mich nur marginal für ihren beruflichen Alltag als Kindergärtnerin interessiert, hatte mich zu Unrecht überlegen gefühlt und ihre Bedürfnisse je länger je weniger wahrgenommen. Mir war nicht bewusst gewesen, wie wichtig das Gespräch in einer Beziehung ist und dass man nicht nur nehmen kann, sondern auch etwas geben muss. Nicht nur in den ersten Jahren, sondern auch später.
Mein Exemplar von ‹Una Donna› ging irgendwann bei einem Umzug verloren. Für dieses Buchprojekt fand ich eines in einem deutschen Antiquariat und las es erneut, diesmal mit ganz anderen Augen, mehr als interessanten, zeitkritischen Roman. Ich konnte nicht mehr nachvollziehen, was ich damals alles unterstrichen hatte. Vielleicht war der Inhalt des Buches weniger wichtig gewesen als das, was es bei mir Seite für Seite ausgelöst hatte. Es hatte mich animiert, auf den Felsen über dem tosenden Meer an der Küste Kretas fünf Tage lang über mein Verhalten als Mann in einer Partnerschaft nachzudenken. Vielleicht habe ich mich dank dieser Lektüre zum Besseren hin entwickelt.»
«Una Donna – Geschichte einer Frau» von Sibilla Aleramo, Verlag Neue Kritik, Frankfurt.
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