Pures Glück im Goldrausch des Herbstes
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Edwin van der Geest: «Zäher Hochnebel plagt seit Wochen das Mittelland und die Alpentäler, also ab in die Höhe. Bei Bergün durchsticht die Rhätische Bahn die Decke und so steht einem prächtigen Herbst-Wandertag nichts im Wege.» (1 Kommentar)
VON EDWIN VAN DER GEEST
Der Herbst hat das Albulatal fest im Griff. Ein kühler Atem liegt über den Bergen, und doch strahlt die Sonne mit jener Klarheit, die nur der Oktober kennt. Ich starte in Preda, dort, wo sich das Tal öffnet und die Luft nach Holzfeuer und kaltem Stein riecht. Der erste Frost glitzert auf den Gräsern, während über den Dächern des Weilers die Lärchen leuchten – goldgelb, fast unwirklich. Ich juble innerlich: Das wird ein Supertag!

Der Pfad zieht sich durch den kräftig nach Harz duftenden Wald bergauf und führt mich an den Palpuegna-See. Kein Laut, nur das leise Knirschen meiner Schritte im gefrorenen Boden. Dann schimmert plötzlich die Wasserfläche durch die mit Eiskristallen überzogenen Äste. Was für ein Moment! Der See ruht auf der schattigen Uferseite still und dunkel unter einer hauchdünnen Eisschicht. Auf der anderen Seite taucht die Sonne die Talschaft in bernsteinfarbenes Licht. Dieser Kontrast der goldenen Lärchen mit dem Wasser ist atemberaubend! Mir wird fast schwindlig vor Begeisterung.


Ich komme kaum voran, bleibe immer wieder stehen, um noch ein besseres Bild zu schiessen – als wollte ich festhalten, was sich doch nur im Inneren bewahren lässt. Am Ende des Sees ein letzter, sehnsüchtiger Blick zurück: Im Hintergrund glitzern die Spitzen des Piz Ela und seiner Nachbarn, frisch überzuckert vom ersten Schnee. Es ist, als würde sich der Sommer mit einem letzten goldenen Atem verabschieden.
Die nächste Talstufe umrunde ich auf der sonnigen Seite im Uhrzeigersinn. Ich überquere zweimal die Passtrasse, staune über eine mächtige Quelle (Funtana Fregda), sichte ein paar Gämsen und tauche dann in die schattigen Nordhänge des Dschimels und der Bottas Glischas ein.
Die Kälte vertreibe ich mit etwas mehr Tempo, und so steige ich rasch durch die heidenartige Landschaft hinauf zu den Crap-Alv-Seelein. Sie liegen wohl bis ins Frühjahr im Schatten und sind bereits hart gefroren. Selbst grössere Steine vermögen keine Löcher mehr ins Eis zu schlagen – wie ich bubenhaft teste.

Je höher ich steige, desto klarer wird die Luft, desto feiner das Schweigen der Natur. Bald nähere ich mich der Fuorcla Crap Alv, wo Wind und Stille sich begegnen. Mit Staunen sehe ich, dass sich selbst hier schon – auf über 2400 Meter – erste Lärchen und Legföhren ansiedeln. Der Klimawandel lässt grüssen. Ob meine Nachfahren hier wohl eines Tages einen Wald vorfinden werden?

Kurz vor dem Pass verlasse ich den Weg und steige über Gras und Felsriegel auf den Cho dal Buoch (2673 m), der eine grossartige Rundsicht verspricht. Oben bläst mir der kalte Wind so richtig ins Gesicht, doch mein Herz schlägt warm – für diese Landschaft, so rau und zärtlich zugleich! Vor mir glänzen die 3000er rund um das Val Bever mit ihren weissen Kappen. Grossartig!

Ein grosser Felsen bietet Windschutz, und so kann ich, gut eingepackt, die Sonne geniessen und mein Sandwich essen. Dabei sehe ich den Oktober 1985 vor mir, als wir während der Rekrutenschule in diesem windigen Val Bever schossen und biwakierten. Mit dem Notkocher tauten wir frühmorgens die reifüberzogenen Blachenzelte auf, bevor wir uns aus dem Schlafsack wagten. Tempi passati.
Der Abstieg führt zurück zum Wanderweg und bald steil hinunter ins Val Bever. Der kiesige Pfad ist bei Nässe nicht zu unterschätzen – ein Fehltritt wäre hier wenig angenehm. Doch bald stehe ich im Talboden dieses stillen, weiten Hochtals, wo das Licht zwischen den goldenen Lärchen tanzt. Das Tal öffnet sich, die Kälte verliert an Schärfe, und es riecht nach Winter und Sommer zugleich. Ich folge dem Bach, der gluckert, als würde er mir Geschichten erzählen – vom Sommer, der ging, und vom Winter, der schon wartet.



In Spinas erreiche ich das andere Ende des Bahntunnels, der in Preda beginnt. Die Beiz ist gut besucht, Wanderer und Biker füllen die Terrasse. Die Gerstensuppe ist fein, und auch das grosse Panaché darf jetzt sein.

Doch vom Wandern habe ich noch nicht genug. Vergnügt nehme ich die letzte knappe Stunde nach Bever unter die Füsse, um auf dem breiten Weg noch mehr Lärchenfreude und Herbstduft zu geniessen. Kurz vor dem Ziel zeigen sich sogar der Piz Bernina und seine Kumpanen.


In Bever mit seinem pittoresken Kirchlein angekommen, zögere ich, den letzten Schritt zu tun. Noch einmal blicke ich dankbar zurück ins Tal – das Licht, die Farben, das leise Flüstern der Lärchen. Der Tag war kein anspruchsvolles Abenteuer im üblichen Sinn, sondern ein stilles Staunen. Und vielleicht ist genau das es, was das Wandern im Herbst so schön macht: dieses Gefühl, dass die Bergwelt noch einmal tief einatmet, bevor sie zur Ruhe kommt.
Anforderung: 17,6 km, 1036 m auf- und 1114 m abwärts, 6 1/2 Stunden.
Route: PDF von SchweizMobil

Der Zolliker Edwin van der Geest ist ein begeisterter Wanderer. Er beschreibt regelmässig seine Lieblingstouren, die sich insbesondere für gut trainierte Wandersleute eignen.
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Sowohl Bilder als auch Wanderung sind beeindruckend – gratuliere!