«Das Bergparadies, das mir so viel bedeutet»

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Edwin van der Geest: «Vor 50 Jahren durfte ich das erste Mal mit zum Oberhornsee. Es war ein Kraftakt mit kleinen Füssen in schweren Schuhen. Heute breche ich leichteren Fusses wieder einmal auf in dieses Bergparadies, das mir so viel bedeutet.»

Garagist Gärtsch in seinem öligen Overall darf diesmal zuhause bleiben. In der Regel bringt sein Wandertaxi uns nach Trachsellauenen, das seit rund 30 Jahren von einem Fahrsträsschen erschlossen wird. Das spart 300 Höhenmeter und etwas Zeit. Aber heute beginne ich bewusst zuunterst in Stechelberg, am Anfang des Hinteren Lauterbrunnentals – so wie im Sommer 1970 mit meinem Vater Hans, als ich erstmals mitkommen durfte.

Stechelberg und Blick ins Tal
Der Blick von Stechelberg zurück nach Lauterbrunnen

Neben mir rauscht die weisse Lütschine, gut gefüllt mit Gletscherwasser. Ich kenne jeden Stein, jeden Baum, sie fühlen sich heimisch an. Ich atme tief durch, grinse breit und fühle mich wunderbar. Freundin Robin erzählte mir einst, dass Tolkien sich hier für seine «Herr der Ringe»-Trilogie habe inspirieren lassen. Er hätte keinen besseren Ort finden können.

Rasch erreiche ich die Ställe von Sichellauenen, dann die einfache Herberge von Trachsellauenen. Ich beobachte etwas mitleidig die blanken Gletscher hoch über mir an den Flanken von Äbnefluh, Gross- und Mittaghorn und wünsche ihnen, dass die erste Septemberkälte sie wieder gut einpacken wird.

Auf dem Weg nach Trachsellauenen
Auf dem Weg nach Trachsellauenen

Der Weg taucht nun in ein Bergsturzgebiet ein, ein kurzer, steiler Aufstieg führt auf die nächste Talstufe. Zwischen den riesigen Brocken riecht es nach Moos, der Farn zwischen den felsumwurzelnden Bäumen steht hoch. Wenig später erreiche ich den Schirboden, der den Blick auf das Breithorn und den imposanten Schmadribachfall freigibt. Beim Überschreiten des Schluchbachs denke ich – wie immer – daran zurück, wie ich mich dazumal vollbekleidet vor aufdringlichen Fliegen schützte, während meine Schwester sich entspannt von der Sonne bräunen liess.

Klein Edwin mit Schwesterchen Pauline beim Schirboden, Juli 1970 (Foto: Familienarchiv)
Klein Edwin mit Schwesterchen Pauline beim Schirboden, Juli 1970 (Foto: Familienarchiv)

Dann passiere ich die altbekannte, schöne Berner Oberländer Scheune, verlasse die Route zum Oberhornsee und überquere den wilden Bach. Es ist ein kleiner Umweg, den ich hier einbaue, aber der lohnt sich doppelt. So steige ich nämlich zügig zu einem versteckten Tälchen hoch, das zum Herrschaftsgebiet der Schmadribachfälle gehört. Dieser spritzende Wasserlauf und sein kleines Flussdelta gehören für mich zum Eindrücklichsten, was das Berner Oberland zu bieten hat. Eine perfekte Komposition, die kein Landschaftsarchitekt besser entwerfen könnte.

Am Fuss des Schmadribachfalls
Am Fuss des Schmadribachfalls

Ich halte kurz inne, um etwas zu trinken, zu lauschen und zu staunen. Wie mich dieser einsame Ort doch jedesmal wieder begeistert! Der schmale Pfad führt dann weiter zwischen Büschen und Bäumen und wieder ein paar Dutzend Höhenmeter hinunter zur Lütschine. Diese hat sich an dieser Stelle eine kaum zwei Meter breite, unendlich tiefe Schlucht durch den Kalkstein gefressen. Das Wasser unter dem Brücklein tost, es schaudert mich beim Gedanken, was passieren würde, wenn man in diese Waschmaschine geraten würde …

Meine Route folgt nun dem Bachlauf nach oben. Zunächst ist es flach und bietet Platz für eine überschaubare Weide, eine neue Laune der Natur. Zwei Ställe beherbergen denn auch etwas Vieh. Am Ende der Ebene stürzt Wasser über eine steile Talstufe hinunter und hat sich auch hier tief in die Felsen eingegraben. Grosses Kino, ein einzigartiges Schauspiel.

Das Resultat der Wasserkraft über die Jahrtausende
Das Resultat der Wasserkraft über die Jahrtausende

Es folgt etwas Fleissarbeit, denn die nächste Talstufe muss im treppenartigen Zickzack erklommen werden. Doch bald stehe ich oben, die Baumgrenze ist erreicht, und es öffnet sich die Gletscher- und Felsenwelt des Breit- und des Tschingelhorns. Vor ihnen liegt ein begraster Rücken und eine Moräne, die müssen jetzt noch überwunden werden. Das geht aber leicht in voller Vorfreude auf das Kommende.

Der Blick zurück von der Rampe ins Tälchen – im Hintergrund die Jungfrau
Der Blick zurück von der Rampe ins Tälchen – im Hintergrund die Jungfrau
Links der Moräne und unter dem Breithorn liegt der See
Links der Moräne und unter dem Breithorn liegt der See

So zähle ich bald die letzten Schritte, als ich um die Blöcke kurz vor dem Tagesziel drehe. Mein Gesicht hellt sich auf, und ich stehe strahlend am Ufer des geliebten Oberhornsees, der so kunstvoll in die steinige Gletscherlandschaft eingebettet ist.

Ich war sieben Jahre nicht mehr hier – und meine einmal mehr, noch nie so etwas Schönes gesehen zu haben. Das türkisblaue, von Gras und Felsen umgebene Wasser, die blanken Gletscher und das Ende August jeweils fast schneefreie Tschingelhorn, das eigenwillige, kantige Lauterbrunner Wetterhorn mit der vorgelagerten Kanzel, das mächtige Breithorn. Und im Rücken die Jungfrau, die ebenfalls immer schöne Erinnerungen weckt.

Oberhornsee unter dem Dominator Breithorn
Der Oberhornsee unter dem Dominator Breithorn

Fast eine Stunde gebe ich mich dem Genuss der grossartigen Kulisse hin und schwelge gleichzeitig in den Erinnerungen früherer Besuche. Spontan whatsapple ich Hans ein Foto. Er antwortet: «Paradise lost» – in seinem hohen Alter kann er keine hohen Berge mehr besteigen. «Ich brauche es auch nicht», versichert er mir sonntags darauf beim Kaffee, «ich muss nur die Augen schliessen, dann bin ich dort.»

Auf dem Weg hinunter zum Obersteinberg noch ein Blick zurück
Auf dem Weg hinunter zum Obersteinberg noch ein Blick zurück

In bester Stimmung zottle ich zum Obersteinberg hinunter. Die Route folgt jetzt dem Südhang, von wo aus die gegenüberliegende, wilde Talseite besonders gut betrachtet werden kann. Darum ist auch die Einkehr im ursprünglichen Berghotel ein Muss. Bei Schorle und Nusstorte erinnere ich mich daran, dass der Konsum hier oben stark begleiterabhängig war. Mit Mutter Bea gab’s jeweils ein teures, maultiertransportiertes Elmer Citro, mit Vater Hans die teegefüllte Feldflasche … aber schön war es mit beiden.

Nochmals der Schmadribachfall
Nochmals der Schmadribachfall

Für den Abstieg wähle ich heute die Route entlang des zweiten Berghotels (Tschingelhorn) auf demselben Höhenweg, wo langhaarige Yaks grasen. So ändern sich die Zeiten! Dann folge ich dem arg verwurzelten, schmalen Pfad nach Stechelberg hinunter. Hier folgt das obligate Bier im Garten des Restaurants, dessen Stühle 1970 wohl auch schon da standen. Bald komme ich wieder!

Yaks beim Hotel Tschingelhorn
Yaks beim Hotel Tschingelhorn

Anreise: Mit Bahn und Bus bis Stechelberg (BE). Bei der Garage Gärtsch kann das Wandertaxi bis Trachsellauenen bestellt werden. Auf dem Obersteinberg, im Hotel Tschingelhorn und in Trachsellauenen kann urtümlich übernachtet werden. Ich war manche Nacht dort und kann es empfehlen.

Anforderung: 16 km, 1344 m Höhendifferenz, 6 h 50 Min.

Route: PDF von SchweizMobil

Edwin van der Geest

Der Zolliker Edwin van der Geest ist ein begeisterter Wanderer. Er beschreibt in dieser Kolumne jeden Monat eine seiner Lieblingstouren.

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Das klingt wunderbar und verlockend. Es wäre für Nicht- Ortskundige hilfreich, eine Karte oder auch nur genauere Beschreibung der Streckenabschnitte zum Nachwandern anzufügen.

Liebe Frau Baum, am Ende des Artikels finden Sie ein PDF mit der Route von SchweizMobil. Das können Sie ausdrucken und auf die Wanderung mitnehmen.

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