«Angst im Schulumfeld ist etwas vom Schlimmsten»
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9. Mai 2022 – Corinne Hoss-Blatter war acht Jahre Schulpflegerin und genauso lang Schulpräsidentin und damit Gemeinderätin. Die 58-Jährige zieht Bilanz über eine Zeit, die von folgenreichen Entwicklungen wie der Digitalisierung und der Corona-Pandemie geprägt war.
INTERVIEW: BARBARA LUKESCH
Frau Hoss-Blatter, warum geben Sie Ihr Amt als Schulpräsidentin und Gemeinderätin jetzt ab?
Schon als ich vor acht Jahren gewählt wurde, habe ich gesagt, dass ich zwei Legislaturen im Amt bleiben werde. Immerhin war ich ja schon vorher acht Jahre als Schulpflegerin tätig. Sechzehn Jahre im Dienste der Schulbehörden sind genug.
Wie viele Stunden pro Woche haben Sie in das Präsidium gesteckt?
Das Amt ist zwar als 35- bis 40-Prozent-Job konzipiert, aber damit wäre ich nirgends hingekommen. Ich habe sicher das Doppelte investiert. Dass dieser Aufwand erforderlich ist, zeigt sich daran, dass Urs Rechsteiner, unser Leiter Bildung, ein volles Pensum hat und ausgelastet ist.
Sie gelten allerdings auch als jemand, der sich reingekniet hat in seine Aufgabe.
So funktioniere ich: Ich kann nichts halbpatzig machen. Immer wieder habe ich mich zum Beispiel in eines der Lehrerzimmer gesetzt und mich länger mit einer Lehrperson unterhalten. Auf diese Art habe ich überhaupt erst mitbekommen, wo den Leuten der Schuh drückt. Damit bin ich dann an die Schulleitungen gelangt und habe angeregt, man solle dieses oder jenes Thema mal etwas genauer anschauen.
Was bleibt, wenn Sie gehen?
Schwer zu sagen. Ich denke, die neue Organisation mit dem Leiter Bildung wird Bestand haben. Es war mein ganz persönliches Ziel, die Schule auf diese Art zu professionalisieren und damit auch das Amt der Schulpräsidentin miliztauglich zu halten. Was ebenfalls bleibt, werden meine positiven Erinnerungen sein, und ich hoffe natürlich, dass auch andere gute Erinnerungen an mich behalten werden. Ich hatte und habe ein sehr gutes Verhältnis zur Lehrerschaft und den Schulleitungen. Auch auf Seiten der Kinder habe ich viel Freude gespürt. Wenn ich bei ihnen auf Schulbesuch war und sie später in der Migros wiedergesehen habe, tönte es sehr munter: «Grüezi, Frau Hoss!» Und wenn das Mami sie dann gefragt hat, wer das denn sei, hiess es: «Die Präsidentin!» So herzig.
Es gibt Leute, die sagen, Sie hätten für die Schule gelebt und wären im schlimmsten Fall auch für die Schule gestorben.
(lacht schallend) Vermutlich schon. Gott sei Dank hat es die Situation nie erfordert. Aber es stimmt: in den acht Jahren als Schulpräsidentin habe ich für die Schule gelebt.
Nehmen wir eine Skala von 0 bis 10. Wie gross war Ihre Identifikation mit der Schule?
(prompt) 10. Zu 100 Prozent.
Warum eigentlich? Sie sind Historikerin und nicht Pädagogin.
Ich habe eine lange Schulgeschichte. Ich bin in einem Lehrer-Haushalt aufgewachsen. Nach dem Studium bin ich für fünf Jahre nach Singapur gegangen und habe dort Deutsch am Goethe-Institut unterrichtet. Nach meiner Rückkehr in die Schweiz habe ich Deutsch für Fremdsprachige an verschiedenen privaten Schulen gegeben. Abgesehen davon bin ich überzeugt, dass die Schweiz als Land ohne natürliche Ressourcen auf die Aus- und Weiterbildung der Menschen setzen muss. Das war mir immer wahnsinnig wichtig.
Worauf sind Sie besonders stolz?
Auf den Bau des Kindergarten- und Musikschul-Gebäudes in Zollikerberg. Das Haus ist nicht nur schön, sondern auch zweckmässig geworden: ein richtiges Highlight. Glücklich bin ich auch, dass wir die acht Jahre während meines Präsidiums ohne negative Schlagzeilen bewältigt haben. Das ist nicht selbstverständlich. Es gab und gibt ja genügend Beispiele, die zeigen, wie schnell es zu Konflikten kommen kann, die dann in den Medien breitgetreten werden. Horgen hat Streit mit der Schulpräsidentin, in Oetwil am See und in Hombrechtikon gab es ebenfalls Auseinandersetzungen, Stäfa war in den Schlagzeilen wegen einer Lehrperson. In Zollikon dagegen durften wir in Ruhe arbeiten.
Wie ist es Ihnen gelungen, ohne negative Schlagzeilen durchzukommen? Auch an den Zolliker Schulen ist ja nicht immer alles rund gelaufen.
Klar. Wir hatten beispielsweise eine schwierige Klassensituation im Dorf, aber da habe ich kurzfristig einen Elternabend zusammen mit der Krisenintervention Schweiz organisiert, bei der wir Mitglied sind. Wir haben offen kommuniziert und das Problem mit den Beteiligten lösen können, ohne dass es negative Schlagzeilen gegeben hat. Darüber bin ich sehr froh, denn solche Berichte verursachen immer einen bleibenden Schaden.
Welche Baustellen lassen Sie zurück?
(seufzt) Die grösste Baustelle ist sicher das Betreuungshaus Rüterwis. Es tut mir leid, dass wir dieses Projekt nicht haben aufgleisen können und ich es, bereit zum Bau, übergeben kann. Das war eine Erfahrung, die mich extrem viel Nerven gekostet hat.
Was war daran so besonders schwierig für Sie?
Den Architekturwettbewerb hat leider eine Person gewonnen, deren Einstellung sich salopp so zusammenfassen lässt: öffentliche Hand = Milchkuh, die man melken kann. Traurig war dann der Moment, als der Entscheid der Schulpflege feststand: wir hören auf! Das habe ich wirklich als Niederlage empfunden, obwohl ich mich sehr für diesen Schlussstrich eingesetzt habe.
Weitere Baustellen?
Eine zweite Baustelle ist die Website der Schule. Die ist nicht up to date. Unter anderem gibt’s da noch ein Foto meiner Tochter, die sie als Primarschülerin zeigt, dabei ist sie 21 Jahre alt. Da hatte die Pandemie – der ich zwar nicht gern die Schuld gebe – einen Einfluss. Wir hatten so viel zu tun mit dem Erstellen der Schutzkonzepte, Homeschooling und dem Erfüllen aller Vorgaben, dass die Website in den Hintergrund getreten ist.
Was hat auf Seiten der Eltern am häufigsten Anlass zu Reklamationen gegeben?
Die Kindergartenzuteilung ist ein Dauerbrenner, eng verbunden mit der Frage des Schulwegs. Unglaublich viele Eltern haben grossen Respekt vor dem Schulweg. So rekurrieren sie gegen die Einteilung, weil sie sich einen anderen Kindergartenweg wünschen. Rund ein Dutzend solcher Rekurse sind in den vergangenen 16 Jahren an den Bezirksrat gelangt und vier Familien haben ihren Fall sogar bis vors Verwaltungsgericht weitergezogen. Ohne Aussicht auf Erfolg, alle verlieren.
Woher rührt Ihre Gewissheit?
Bei uns sind die Schulwege sicher. Das hat auch eine Studie klar zum Ausdruck gebracht, die wir vor acht Jahren haben durchführen lassen. Mir persönlich war die Schulwegsicherheit immer sehr wichtig. So habe ich zum Beispiel beim Fussgängerstreifen oberhalb der Bushaltestelle an der Berg-/Höhestrasse beim Kanton ein Mittel-Inseli erkämpft, damit auch die Kleinsten in Ruhe rüberkommen. Das heisst übrigens im Volksmund «das Hoss-Inseli», was mich echt freut. Im Zollikerberg beim Rüterwis habe ich jahrelang für die Dreiecke auf dem Boden mit der Aufschrift «Achtung Schule!» gekämpft, die die Automobilisten wirklich zum Drosseln des Tempos veranlassen. Aller Anstrengungen zum Trotz denken viele Eltern, die Schulwege seien Todesfallen und chauffieren ihre Kinder mit dem Auto, was ich überhaupt nicht verstehen kann und entsprechend verurteile.
Nicht alle Eltern begegnen dem Thema so locker wie Sie.
Ich rede so locker darüber, weil unsere Tochter, ein Dorfkind, ihre sechs Primarschuljahre im Rüterwis im Berg absolvierte. Sie wurde zusammen mit anderen Kindern aus unserem Quartier dort eingeteilt, weil es im Dorf zu wenig Platz gab. Das erste Vierteljahr holte ein Spezialbüsli die Kleinen ab, danach sind sie mit dem regulären Bus gefahren – und alle haben überlebt (lacht). Was ich besonders interessant finde, ist, dass viele Zolliker Eltern vom Chindsgi an wissen, dass ihr Sohn oder ihre Tochter aufs Gymnasium gehört, und sie ihren Kindern trotzdem nicht zutrauen, allein in die Schule zu gehen.
Stichwort Gymnasium. Wenn die Vornoten nicht stimmen oder der Übertritt ins Gymnasium nicht klappt, soll es sofort geharnischte Reaktionen geben.
Das ist so. Es ist das zweite grosse Thema, das regelmässig zu Reklamationen von Seiten der Eltern führt. Wenn die Vornoten nicht stimmen, geraten zunächst meistens die Lehrpersonen unter Druck, und es kann zu Rekursen kommen. Zu dem Thema habe ich Stunden mit Elterngesprächen verbracht. Der Leistungsdruck, den viele Väter und Mütter auf ihren Nachwuchs ausüben, regt mich sehr auf. Vor allem weil es letztlich gar nicht um die Kinder geht, sondern nur um den Ehrgeiz der Eltern. Besteht ein Kind die Probezeit am Gymi nicht, gibt es bei vielen nur einen Ausweg: eine Privatschule. Dass die Sekundarschule in Zollikon eine sinnvolle Alternative sein könnte, kommt für viele gar nicht erst in Betracht. Schade!
Nun gibt es aber nicht nur übervorsichtige oder überehrgeizige Eltern, die der Schule das Leben schwer machen. Manchmal haben Eltern ja auch völlig berechtigte Beanstandungen. Ein heikler Punkt ist dann oft die Frage, inwieweit sie ihren Kindern schaden, wenn sie diese Kritik artikulieren. Aus Angst lassen viele es dann bleiben.
Das ist ein Problem, das mir Eltern immer mal wieder schildern. Da heisst es dann: «Ich sage lieber nichts, weil es der Lehrer sonst meiner Tochter heimzahlt.» Das geht natürlich überhaupt nicht. Angst im Schulumfeld ist für mich etwas vom Schlimmsten. Angst ist falsch. Es ist ein Professionalitätsanspruch an unsere Lehrpersonen, dass sie niemals irgendein Ressentiment an einem Kind auslassen.
Welchen Weg sollen solche Eltern einschlagen?
Im Idealfall sollten sie natürlich mit der Lehrerin ihres Kindes oder dann mit der Schulleitung reden. Für schwierigere Fälle habe ich einmal im Monat eine Sprechstunde angeboten, die man unangemeldet aufsuchen kann. Ich höre mir das Problem an und suche gemeinsam mit dem Vater oder der Mutter nach einem Weg. Sehr oft sind wir dank diesen Gesprächen zu einer guten Lösung gekommen.
Zollikon ist fest in bürgerlicher Hand. Sparen ist alles. Wie haben Sie Ihre Kollegen und Kolleginnen davon überzeugen können, dass Bildung nun mal ihren Preis hat?
Auch die FDP, die gern spart, weiss, wie wichtig Bildung ist. Klar habe ich als Schulpräsidentin immer wieder gut argumentieren müssen, wenn wir im Gemeinderat das Budget besprochen haben. Ich werde sicherlich auch jetzt wieder Kritik kassieren, wenn die RGPK unsere Rechnung kontrolliert. Ich versuche dann zu erklären, dass zum Beispiel sonderpädagogische Massnahmen und Therapien viel kosten, aber auch einen grossen Nutzen haben. Was wollen wir denn? Jetzt sparen und dafür lebenslang Sozialhilfe ausrichten? Oder jetzt etwas mehr Geld in die Hand nehmen und den jungen Menschen damit eine Ausbildung ermöglichen, die sie zur Selbständigkeit befähigt?
Mitunter wird aber auch kritisiert, dass man den Kindern in einer Goldküstengemeinde wie Zollikon jeden noch so kleinen Makel therapeutisch auszutreiben versucht.
Das ist ein Problem, das typisch für eine Gemeinde wie unsere ist. Nehmen Sie das Fach Deutsch als Zweitsprache, DaZ. Bei uns ist das sprachliche Niveau im Unterricht sicher höher, weil wir eine bildungsnahe Elternschaft mit den entsprechenden Ansprüchen haben. In der Folge wird der DaZ-Unterricht länger und von mehr Kindern besucht als beispielsweise in einzelnen Zürcher Stadtkreisen. Und das wird – logische Folge – teurer.
Der Leiter Bildung kostet die Steuerzahlenden jährlich 200’000 Franken.
Das ist letztlich genehmigt worden, weil die Zolliker Stimmberechtigten eingesehen haben, dass die Aufgaben des Schulpräsidenten und der Schulpflegerinnen einfach nicht mehr im Milizamt erledigt werden können. Denkbar ist ja, dass wir künftig vielleicht die Entschädigungen für die Schulpflege kürzen, weil sie dank der Leitung Bildung weniger Arbeit hat.
Richtig teuer ist auch die Digitalisierung, konkret die Ausstattung der Schulen mit rund 1000 Tablets.
Auch diesen Budgetposten hat die Bevölkerung problemlos gutgeheissen. Wir haben sogar die kostspieligste Variante unter den Vorschlägen des Volksschulamts gewählt. Etwas Zolliker Finish halt.
Zolliker Finish?
Gute Kenntnisse in IT schätzen unsere bildungsnahen Eltern extrem hoch ein. Da wird nicht gespart. Das trägt uns aber auch einen guten Ruf ein. Es gibt immer wieder Leute, die nach Zollikon ziehen, weil sie gehört haben, dass unsere Schulen zu den Besten im Kanton gehören. Abgesehen davon haben diese Tablets während der Pandemie unschätzbare Dienste geleistet. Einerseits während der Lockdowns, später dann Kindern, die in die Quarantäne mussten. Ihnen konnten wir Hybridunterricht anbieten: sie daheim am Tablet, die anderen Kinder im Klassenzimmer.
Zollikon ist nur einen Katzensprung von Zürich entfernt. Inwieweit sind urbane Drogen- und Gewaltprobleme aus der grossen Stadt auch nach Zollikon übergeschwappt?
Auch in Zollikon herrscht nicht heile Welt. Es gab vor Jahren einmal eine Messerstecherei auf dem Schulhausplatz in Zollikerberg. Vor Corona hatten wir enorme Sprayereien auch im Zollikerberg auf der Schulanlage, da haben wir sogar ein ganzes Lager mit Spraydosen gefunden. Wir haben, in Anlehnung an die Praxis der Gemeinde, alles postwendend weggeputzt, weil es nicht geht, dass die Kinder am folgenden Tag eine Riesensauerei mit leeren Bierflaschen, Scherben und hässlichen FCZ- oder GC-Schmierereien an den Wänden antreffen. Momentan haben wir vereinzelt Gruppen im Dorf, die in der Tiefgarage im Zentrum Feuer machen, Zeug demolieren oder Gras rauchen. Da arbeiten wir mit der Mojuga zusammen, die in der Gemeinde für die Jugendarbeit zuständig ist, aber auch unsere Schulsozialarbeitenden sind intensiv im Einsatz. Solche Geschichten kommen und gehen, ich weiss von anderen Gemeinden, die mit den gleichen Problemen kämpfen.
Nun kandidieren Sie für die Sozialbehörde und streben damit einen «Schoggijob» an, wie es Insider nennen.
Ich will tatsächlich kürzertreten. Sehr viel kürzertreten.
Die Hände in den Schoss legen werden Sie trotzdem nicht.
Ich habe verschiedene Projekte. Zum Einen werde ich wieder vermehrt in der Liquidationsfirma meines Mannes arbeiten. Vielleicht gebe ich auch wieder einen Tag pro Woche Deutschunterricht. Zwei Freundinnen von mir haben Sprachschulen und haben mich darum gebeten. Dazu sind bereits die Schulkommissionen verschiedener Mittel-, aber auch Berufsschulen an mich herangetreten und meinten, dass ich ja nun mehr Zeit hätte und mich um einen Sitz bei ihnen bewerben solle. Ausserdem bin ich Vizepräsidentin des Charityprojekts «Friends of Carina», das eine Apotheke in den Slums von Buenos Aires betreibt. Da helfe ich mit, das jährlich benötigte Kapital aufzutreiben. Fundraising kann ich gut, und es macht mir Spass.