Der Römer, den es in den Thurgau verschlug
0 KOMMENTARE
Thomas Widmer: «Auf dem Weg vom Bahnhof Stammheim ZH zur Kartause Ittingen TG ist es mal sonnig, mal düster, mal nass – beste Wetterunterhaltung. Am Ziel speisen wir gediegen und treffen einen heiligen Mann, der über die Alpen zu uns kam.»
VON THOMAS WIDMER
Stammheim im Zürcher Weinland, wir steigen aus der S-Bahn, kühl heute! Der Himmel ist ein wogendes Wolkenmeer. Wir sind zu zweit, ausser der tapferen Ronja ist niemand aus meinem Grüppli gekommen. Die Wetterprognose muss die anderen abgeschreckt haben.

Wir starten, unser erstes Zwischenziel ist Oberstammheim. Ein besonders schmuckes und traditionsverbundenes Dorf. Auch die Polizei haust hier in einem Fachwerkbau.
Ronja und ich kennen Oberstammheim bestens. Diesmal wird nicht besichtigt, sondern bloss im Vorbeiziehen zur Kenntnis genommen. Regen oder sogar Sturm ist angesagt. Und den Zmittag wollen wir auch nicht verpassen.

Das Gallus-Kapellchen besuchen wir schon gar nicht, dafür müssten wir auf die Anhöhe Chilebückli hinter dem Dorf steigen. Liegt nicht am Weg, sorry.
Aber: Wenn jemand die Kapelle nicht kennt – unbedingt hingehen. Sie wurzelt im Mittelalter. Ihre Fresken zeigen Geschehnisse aus der Bibel und waren gedacht für Menschen, die nicht lesen konnten. Der Kindermord zu Bethlehem ist zum Beispiel zu sehen, die Darstellung könnte brutaler nicht sein, sie hat sicher so manchen Alptraum angerichtet.
Und dann sind wir im Grünen. Ein weites Land, dieses Weinland, im Sommer ein grosser Garten, jetzt in der kalten Jahreszeit und bei dubiosem Wetter praktisch menschenleer. Die nächsten zwei Stunden sehen wir ausserhalb der Dörfer niemanden und geniessen das sehr.

Immerhin begegnen wir bei einem Gehöft einem Pferd, das uns durch den Zaun erwartungsfroh anschnaubt. Vor zwanzig Jahren hätte ich ihm einen Apfel verfüttert, heute ist das verpönt. Fremde Tiere füttern: macht man längst nicht mehr.

Wir kommen zum Nussbaumersee, der aufgrund einer kuriosen Dialekttümelei auf der Landeskarte als «Nussbommersee» angeschrieben ist. Was für ein verträumtes Gewässer. Ein Riedgürtel schützt es, Holzstege führen über besonders morastige Stellen, nur an wenigen Orten ist das Ufer zugänglich und sind Badeplätze eingerichtet.


Schien zwischenzeitlich die Sonne, so hat es unterdessen zu regnen begonnen. Seltsamerweise praktisch zeitgleich mit unserem Übertritt in den Kanton Thurgau. Die Schirme aufgeklappt, machen wir uns an den Hang, der vom Seebachtal mit unserem See hinauf zu einer kilometerlangen Krete führt.
Auf der anderen Seite der Krete liegt das Thurtal. Besonders anstrengend ist unser Aufstieg nicht. Wir kommen durch zwei kleine Orte, Uerschhausen und Trüttlikon, verweilen aber in keinem, denn jetzt regnet es saftig. Und Hunger haben wir auch.
Als wir die Krete erreichen, ist der Regen weg. Und es wird uns ein grandioser Blick zuteil. Zu unseren Füssen erstreckt sich die Ebene mit der Thur, in der Ferne sehen wir den Thurgauer Hauptort Frauenfeld.

Iselisberg umgeht unser Wanderweg im Folgenden südlich. Uns ist das gleich, auch wenn es in diesem Dorf eine grossartige Wirtschaft gibt, die «Aussicht». Die Metzgete dort: ein Traum aus Fleisch. Wir haben eine andere Vision: Zmittag in der Kartause Ittingen. Dort haben wir reserviert.
Ein kurzweiliger Höhenweg bringt uns unserem Ziel näher. Amüsant finden wir einen Flurnamen, nämlich Googlete. Der Trick besteht darin, ihn nicht englisch auszusprechen, denn mit der Websuchmaschine Google hat er gar nichts zu tun. «Google» ist örtliche Mundart für schwankend gehen. Wir sind offenbar in Gelände unterwegs, das einen ins Schwanken bringt. Eine Anspielung auf die Weinberge, die uns umgeben?
Schliesslich die Kartause. Ein Riesenanwesen, dieses aufgehobene Kloster der Kartäuser, heute umfasst es einen Gutsbetrieb, eine Wiedereingliederungsstätte für Behinderte, ein Seminarhotel, zwei Museen, einen Laden. Und ein Restaurant.

Ihm, der «Mühle», in der sich am Rand des Raumes ein riesiges Mühlerad dreht, streben wir nun eilig zu. Was auch andere Leute tun, es ist 12 Uhr, Essenszeit. Das Lokal füllt sich rapid.
Gediegen unser Zmittag, ich habe eine Ittinger Forelle mit Scampidekoration und Gerstotto, Ronja süddeutsche Teigkrapfen. Unser Rotwein ist selbstverständlich ein Ittinger.

Eigentlich sind wir nach der Schlemmerei immobil. Doch wir rappeln uns auf. Besichtigen im Folgenden zuerst die Klosterkirche. Sie ist eher klein, umso stärker wirkt die Fülle an barockem Zierrat.

Danach ziehen wir durch die langen Klostergänge. In einer Zelle steht reglos, uns den Rücken zugewandt, an einer Drehbank ein Mönch in weisser Kutte mit Kapuze. Unheimlich, ich fühle mich an die Edgar-Wallace-Krimi-Verfilmungen der 1960er-Jahre erinnert. Nach zwei, drei Sekunden realisiere ich: Ist bloss eine Puppe.

Die zweite Begegnung, bevor wir in einer zwanzigminütigen Zugabe durch die klösterlichen Gartenanlagen hinüber zur Postautohaltestelle «Warth, Gemeindehaus» ziehen – das ist die mit dem heiligen Benedictus.
In der Kartause läuft im «Ittinger Museum» derzeit und noch weit ins nächste Jahr hinein eine Ausstellung über Reliquien. Wir durchziehen sie mit wachsender Faszination und kommen schliesslich zu einem liegenden Mann. Benedictus eben.

Prachtvoll sind seine Reste bekleidet und ausstaffiert mit kostbaren Stoffen. Allein diese Zierschühlein mit den nach oben und nach hinten gebogenen Spitzen!
Um einen sogenannten Katakombenheiligen handelt es sich. Viele frühe Christen und Christinnen im alten Rom wurden in unterirdischen Grabanlagen bestattet. Als man diese ein Jahrtausend später wiederentdeckte, galten all die Toten pauschal als Glaubensmärtyrer. Als Heilige.
Ein schwunghafter Handel mit ihren Gebeinen setzte ein, im Rahmen einer Schenkung reiste auch Benedictus über die Alpen. In der Kirche von Hagenwil TG ruht er. Wenn er nicht gerade anderswohin ausgeliehen wird wie derzeit an die Kartause Ittingen.
Auf der Heimfahrt sind wir uns einig, dass dies eine grossartige Wanderung war. Allein die Show, die das Wetter uns bot. Hinzu kamen eine Route, auf der wir durchatmen konnten, und ein feiner Zmittag.
Last not least sind wir Benedictus begegnet. Einem gestylten Römer, den es in den Thurgau verschlagen hat.
Anforderung: 12,5 km, 230 Meter aufwärts, 245 Meter abwärts. 3 Stunden 15 Minuten.
Route: PDF von SchweizMobil

Thomas Widmer wohnt im Zollikerberg, ist Reporter bei der «Schweizer Familie» und hat mehrere Wanderbücher verfasst. Er wandert zwei Mal pro Woche und sagt: «Man wandert nicht nur durch eine Landschaft. Sondern auch durch die Kultur, die Geschichte, die Politik. Wenns dazu etwas Gutes zu essen gibt: grossartig!»