Ein Roman, der vieles auf den Kopf stellt

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Adrian Michael: «Bereits nach dem ersten Satz ist klar, dass hier kein Lobgesang auf den deutschen Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe zu erwarten ist. Steil steigt der neue Roman ‹Rauch und Schall› von Charles Lewinsky ein: ‹Goethe hatte Hämorrhoiden.› (…) (1 Kommentar)

Bereits nach dem ersten Satz ist klar, dass hier kein Lobgesang auf den deutschen Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe zu erwarten ist. Steil steigt der neue Roman «Rauch und Schall» von Charles Lewinsky ein: «Goethe hatte Hämorrhoiden.» Diese plagen ihn auf seinen langen Fahrten mit der Kutsche, die ihn nach einem Aufenthalt in der Schweiz zurück in die Heimat bringt.

Auch bei einem Halt in einem abgelegenen Gasthaus in den Bergen erleben wir Goethe nicht als Lichtfigur, sondern als Mann, der nach heutigen Massstäben durchaus unkorrekt handelt. Einem Bauernmädchen luchst er für einen Taler einen Kuss ab. «Sie überlegte einen Augenblick, zuckte dann die Schultern und sagte: «Warum nicht. Schlimmer als bei meinem Kuno kann es auch nicht sein.» Kuno hiess ihr Hund.

Cover von «Rauch und Schall»

Damit ist der Ton gesetzt: Goethe soll als Mensch gezeichnet werden, nicht als erhabener Dichter. Genüsslich erzählt Lewinsky von einer lang anhaltenden Schreibblockade des Mannes, dem wir Weltliteratur verdanken. Nicht einmal einfache Verse für ein Festgedicht zu Ehren der Herzogin Luise bringt er zu Papier; an die Arbeit an seinem «Faust» ist nicht zu denken – «es ist die Hölle». Um die Blockade zu beheben, geht er widerwillig einen Pakt mit Christian August Vulpius ein, dem Bruder seiner Geliebten und späteren Ehefrau Christiane Vulpius. Goethe kann ihn nicht leiden und hält ihn für einen Dilettanten. Dennoch liefert ihm Vulpius zu seinem Ärger nach kurzer Zeit den Text für das Festgedicht, das er knurrend entgegennimmt. Es waren durchaus brauchbare Verse.

Die lebenslustige Christiane ihrerseits versucht mit Kochkünsten (Schöpsenbraten) und Liebesdiensten («Wenn die Blätter fallen», sang Christiane, «wird der Wald erst schön. Dann gibt er uns allen wirklich was zu sehn!»), den übellaunigen Meister zu beruhigen. Hier allerdings klappt auch nicht alles wie geplant: «Sie lächelte ihn an, und um das Versprechen, das in diesem Lächeln lag, zu verstehen, brauchte er keinen Übersetzer. Mit einer Kopfbewegung forderte sie ihn auf, vom Zuschauer zum Acteur zu werden (…) und in diesem Augenblick klopfte jemand an die Tür.» Ausgerechnet Christian August störte die Zweisamkeit.

Aber auch die angefaulten Äpfel, die sich Goethe in den Schreibtisch legt – bei Schiller habe das auch geholfen – helfen ihm nicht. Verzweifelt erzählt Goethe zuletzt sogar seinem Schwager von seinem Schreibstau. Dieser gibt ihm den Rat: «Schreiben Sie etwas, das niemand lesen soll, irgend etwas. Zum Beispiel eine Räuberpistole mit Pulverdampf, Säbel und einer keuschen Jungfrau, oder nicht so keuschen, je nachdem.» Dazu gibt er Tipps, wie sich Seiten füllen lassen: Die Kämpfe ausführlich beschreiben.

Trotz anfänglicher Skepsis befolgt Goethe diesen Rat – und siehe da: Die Seiten füllen sich fast von alleine, und Goethe lebt auf. Übermütig überlegt er sich, was er antworten würde, wenn Schiller ihn fragte, woran er schreibe: «Die Räuber». Wie es kommt, dass in Lewinskys Version Goethes Räuberpistole «Rinaldo Rinaldini»* nun doch unter dem Namen Christian August Vulpius erscheint, sei hier nicht verraten. Auf jeden Fall können beide Männer von den Fähigkeiten des anderen profitieren.

Einen Bezug zur Zeit, wir befinden uns zu Beginn des 19. Jahrhunderts, schafft Lewinsky, indem er Szenen vom herzöglichen Hof und der Weimarer Theaterszene schildert, die er auch sprachlich in das damalige Jahrhundert versetzt. So verwendet er öfters die alte Deklinationsform weiblicher Nomen: «Er fragte Christianen…».  Dazu lässt er rangniedrigere Personen in der Er-Form ansprechen: «Aber verrat Er mir: Woran hat Er herumstudiert?»  

Immer wieder gibt es auch Sätze, die einen schmunzeln lassen: «Christiane hockte auf dem Boden und halbierte Schnecken.» – «Bei vollem Tageslicht seine Kleider abzulegen, fühlte sich angenehm sündig an.» – «Ich bringe gute Nachricht», sagte Vulpius, «der Herzog ist vom Pferd gefallen.»

Humorvoll vermengt Lewinsky in der Geschichte von der Schreibblockade des Geheimrates Goethe Wahres und Erfundenes. Es ist keineswegs übertrieben, von einem grossen Lesevergnügen zu sprechen.

* «Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann» ist das Hauptwerk von Christian August Vulpius und erschien 1799 in drei Bänden.

Charles Lewinsky, Rauch und Schall, Diogenes 2023, 304 S. 34 Franken

Adrian Michael

Adrian Michael hat 37 Jahre lang an der Zolliker Primarschule unterrichtet. Seit 2017 ist er pensioniert. Nebst der Zolliker Lokalgeschichte gehört auch das Lesen zu seinen Steckenpferden.

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Ich habe das Buch (von der Bibliothek Zollikon, eine guter Ort in Zollikon) grad letzte Woche mit allergrösstem Vergnügen und Genuss gelesen. Schade, Herr Michael verrät meiner Meinung nach schon etwas zu viel von der Handlung, die Lewinsky so leichtfüssig und stilsicher erzählt. Aber recht hat er: Ein grosses Lesevergnügen.

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