«Es geht um die Zukunft unserer Jugend»

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21. November 2023 – Der Lehrer und Ausbildungsfachmann Jürg Schmid* plädiert vehement für die schnellstmögliche Einführung des neuen Schulfachs «KI & moderne Technologien». In den «ZollikerNews» wird er künftig regelmässig eine Kolumne zum Thema schreiben.

Unterricht mit künstlicher Intelligenz
Unterricht mit künstlicher Intelligenz (Fotos: KI-generiert mit Microsoft Bing)

INTERVIEW: BARBARA LUKESCH

Herr Schmid, der deutsche Digitalexperte Sascha Lobo wünscht sich, dass seine Kinder möglichst früh mit moderner Technologie in Berührung kommen. Er lobt China, wo bereits 2018 in 10’000 Schulklassen das Fach «Künstliche Intelligenz KI» unterrichtet wurde. Sein Fazit: «Unsere Bildung muss sich radikal digitalisieren.» Welchen Eindruck gewinnen Sie, wenn Sie die Situation an hiesigen Schulen anschauen?

Den Umgang der Asiaten mit neuen Technologien kenne ich aus meiner beruflichen Tätigkeit vor Ort. Wenn man hierzulande das Thema KI anspricht, erlebt man häufig eine negative, abwehrende Haltung. Offenbar empfinden es viele als Bedrohung und realisieren nicht, wie weit diese Entwicklung bereits fortgeschritten ist. KI ist längst da und in den meisten Industrien, aber auch in Forschung, Raumfahrt oder Militär nicht mehr wegzudenken. Und das ist noch nicht alles. Die Technologie der virtuellen Realität, Robotik wie auch Sensorik breiten sich in Kombination mit KI genauso schnell aus und gehören schon in vielen Unternehmen zum neuen Standard. Insbesondere China ist da wesentlich fokussierter und vorausschauender als wir. Es weiss genau, welch entscheidende Rollen diese Themen im weltweiten Wettbewerb spielen.

Geben Sie uns ein Beispiel! Was kann man konkret mit Virtueller Realität machen?

Firmen, die VR anwenden, arbeiten unter anderem mit speziellen Brillen, die 360 Grad-Ansichten ermöglichen. 360-Grad Kameras, die früher Unsummen gekostet haben, bekommt man heute auf dem Consumer Markt bereits ab rund 2500 Franken. Mal angenommen, ein Konstrukteur in Südafrika soll den Kollegen in Japan, Kanada und Schweden sein neuestes Modell irgendeiner Entwicklung präsentieren, dann stellt er das Modell digital animiert in einen virtuellen Showroom. Die Kollegen loggen sich ein, sehen das Modell in 3D-Version mit allen zugehörigen Informationen. Sie sitzen sich fast wie im realen Leben gegenüber und diskutieren in ihren jeweiligen Landessprachen, wobei integrierte Übersetzungstools simultan in die angewählte Sprache übersetzen. Das ist ökonomisch und ökologisch höchst effizient; man kann sich nebst viel Zeit das Geld für Flugreisen sparen und gleichzeitig die Umwelt schonen.

Wie erklären Sie sich die defensive Haltung der hiesigen Schulen gegenüber KI?

Unser föderalistisch ausgerichtetes Schulsystem ist konzeptionell sehr fortschrittlich und weltweit sicher einmalig.Die öffentlichen Schulen haben jedoch de facto eine Art Monopolstellung und sind daher nicht auf kontinuierliche Veränderungen durch Konkurrenzdruck eingestellt. Solange es also niemanden gibt, der motiviert ist, eine technologische Veränderung voranzutreiben, passiert von innen heraus erfahrungsgemäss nicht viel. Die örtlichen Schulen setzen um, was die Kantone vorgeben. Solange die kantonalen Erziehungsdirektionen diesbezüglich nichts Stringentes kommunizieren, werden die meisten Schulen in Warteposition verharren müssen.

Die Monopolstellung ist eins. Aber was genau bewirkt die föderalistische Organisation der Schweizer Schulen?

Ich denke, ein Vergleich kann da Klarheit schaffen. Unsere Bevölkerungszahl entspricht mit aktuell 8,7 Millionen Einwohnenden in etwa der Population der Stadt London. Mit unseren 26 Kantonen und 2130 Gemeinden sind wir sehr stark fragmentiert. Würde man nun die Stadt London in 26 Bezirke unterteilen und diese danach noch in 2130 einzelne Schulorganisationen mit je einer eigenen Schulpflege, hätten wir ein Abbild des aktuellen Schweizer Schulsystems. Das heisst, in London hätten wir nach jeder zwölften Strasse – es gibt insgesamt rund 25‘000 Strassen – eine andere Schulorganisation mit eigenen Richtlinien und unterschiedlichem Unterrichtsmaterial.

Das Schulblatt des Kantons Zürich hat in einer der letzten Ausgaben dem digitalen Wandel an den hiesigen Schulen mehrere grosse Artikel gewidmet. Es wird also doch einiges getan, ausdrücklich auch im Bereich KI, wo das Programm Chat-GPT in aller Munde ist. Verschiedene Lehrpersonen nehmen sich dem Thema an; und viele Kinder reagieren offenbar mit grossem Interesse.

Ich habe die Berichte gelesen. Das ist sicher ein guter Anfang, wenn Lehrpersonen, die besonders technik-affin sind, solche Angebote machen, die bei Kindern mit Sicherheit auf Interesse stossen werden. Aber das reicht bei weitem noch nicht. Chat-GTP ist lediglich ein KI-Tool unter vielen weiteren. Es werden monatlich mehr und mehr.

Was braucht es Ihrer Meinung nach, um die Digitalisierung an den Schulen voranzubringen?

Wenn man dieses Ziel ernsthaft verfolgen will, braucht es aus meiner Sicht zuallererst eine homogene, nationale Content Management Plattform. Nur so wird man die nötige Entwicklungsdynamik, Effizienz und Synergien erreichen. Diese Lösung wäre auch vom Unterhalt her viel kostengünstiger als die unzähligen, sehr heterogenen aktuellen Lösungen. Jeder Kanton, ja jede Gemeinde könnte trotzdem ihre spezifischen Inhalte verwalten, womit man auch dem Föderalismus in unserem Bildungswesen Genüge tun würde.

Welche Rolle sollte der Bund spielen?

Den Bund würde ich stärker einbinden, weil er die zukünftigen Anforderungen und Bedürfnisse von Industrie und Wirtschaft perspektivisch gesehen am besten kennt. Er kann den Kantonen laufend die Grundimpulse geben, in welche Richtung und mit welcher Beschleunigungsdynamik der digitale Zug fahren wird. Wir müssen uns in der Schweiz an das globale Entwicklungstempo anpassen.

Können Sie ein wenig konkreter werden?
Die Digitalisierung wird zu einer relativ raschen Umwälzung des Arbeitsmarktes führen. Es wird Leute geben, die in ihrem Job wegen der grösseren Produktivität infolge Digitalisierung und KI statt wie bisher 100 Prozent nur noch 40 Prozent arbeiten können; einige Berufe werden gar gänzlich verschwinden. Viele neue Jobs kommen zwar dazu, aber sie erfordern völlig neue Ausbildungen und Fähigkeiten. Für solche Restrukturierungen hat man nicht mehr jahrelang Zeit, denn KI entwickelt sich nicht linear, wie wir es gewohnt sind, sondern exponentiell.

… und deshalb fordern Sie auch die schnelle Einführung eines neuen Schulfachs…

Das ist aus meiner Sicht absolut logisch und für die berufliche Zukunft der heutigen Jugend zwingend. Im Wissen, dass praktisch alle Firmen direkt oder indirekt sehr schnell mit KI arbeiten werden, sollten ab der 6. Klasse die entsprechenden Tools und Fähigkeiten unterrichtet und gefördert werden. Gleichzeitig würde ich aus gewissen Pflichtfächern Freifächer machen. Ein Beispiel wäre der Französisch-Unterricht in der Deutschschweiz oder vice versa der Deutschunterricht in der Romandie.

Diese heiligen Kühe wollen Sie schlachten?

Ja leider, und zwar im Wissen, dass die Industrie für diese Sprachfähigkeiten künftig nichts mehr bezahlen wird. Zu weit sind die Übersetzungstechnologien heute schon entwickelt, wie dieses Video eindrücklich zeigt:

Wer soll das neue Fach KI unterrichten?

Menschen, welche sich mit der Materie praxisorientiert auskennen. Diese können aus der Privatwirtschaft kommen. Für die zukünftige Ausbildung zum Lehrerberuf würde ich ein obligatorisches Praktikum in der Privatwirtschaft empfehlen. Dies wäre zielführend für das Lehrpersonal, die Jugend sowie für deren Eltern.

Der Digitalexperte Sascha Lobo sagte zum Thema Wissensvermittlung kürzlich in einem Interview: «Die Älteren werden vermehrt von den ganz Jungen lernen müssen.» Mit anderen Worten: Lehrer und Lehrerinnen werden sich von Schülerinnen und Schülern die neue Welt erklären lassen müssen?

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass die Jungen den meisten Älteren technologisch heute um Längen voraus sind. Sie nutzen das Smartphone ganz selbstverständlich als neues Werkzeug, kennen sich bestens aus mit Tablets, wissen von ihren Computerspielen, was Virtuelle Realität ist und haben sich längstens schlau gemacht, was ihnen KI zu bieten hat. Sie leben täglich mehrere Stunden in dieser Welt, und das schon seit einigen Jahren. Viele pädagogisch Verantwortliche haben die Tragweite dieser technischen Entwicklung völlig unterschätzt. Man hat zu lange auf dem bisherigen System der Wissensvermittlung bestanden und verlangt, dass sich die Schüler weiterhin an die traditionelle Art mit Wandtafel und Kreide anpassen. Die Folge? Sehr viele Jugendliche haben das Interesse und die Motivation zum Lernen auf diese Weise verloren. Dem sollten wir nun rasch mit moderner Lerninfrastruktur und frischen Lernmethoden entgegenwirken.

Noch ein Zitat von Lobo, das Sprengstoff birgt: «Können ist heute mehr wert als Wissen.» Erfahrung, ergänzt er, verliere an Wert. Das klingt nach einer grundlegenden Umwälzung unseres Bildungskanons. Macht die Gesellschaft da mit?

Wir können wählen, ob wir weiterhin in den Rückspiegel schauen oder uns nach vorne orientieren wollen. Uns muss allerdings bewusst sein, dass diese Entscheidung massive Konsequenzen haben wird. Es geht hier um die berufliche Zukunft unserer Jugend. «Können» bedeutet «praktische Anwendung». Dies wird zukünftig seitens der Industrie verlangt. Den Zugang zum rasant wachsenden Wissens-Pool haben im Grunde jetzt schon alle Menschen weltweit gleichermassen – praktisch gratis via Handy.

Was ist denn mit den Schulbüchern?

Aktuell drucken wir immer noch zahllose Schulbücher und Lernhefte auf Papier. Jedes Kind bekommt alle Jahre neues Büchermaterial. Dieses wird dann von den Jugendlichen täglich in der Schultasche hin und her getragen. Da stellt sich mir unweigerlich auch die Frage nach dem CO2– Footprint dieses Systems. Ich habe schon 2009 für einen global tätigen Konzern ein E-Learning Konzept erstellt und weltweit implementiert. 36 Länder mit 11 Sprachen. Die Inhalte wurden jeweils vierteljährlich aktualisiert und innert 2 Tagen allen Ländern in ihrer jeweiligen Landessprache zugänglich gemacht. Ökologisch sinnvoll, preiswert, dynamisch und absolut lerneffektiv. Wir haben damit sehr viel Zeit und Geld gespart.

Während der Pandemie schien die Digitalisierung auch im hiesigen Schulbetrieb Fahrt aufzunehmen.

Das war auch so. Spätestens seit jener Zeit hätte klar sein müssen, dass wir die Digitalisierung der Lerninhalte für die Schüler dringend vorantreiben sollten. Stattdessen hat die Digitalisierung an den Schulen lediglich im Bereich der Administration stattgefunden.

Früher hiess es, gerade mit Blick auf die Älteren, lebenslanges Lernen sei ein Muss. Inzwischen scheint es um permanentes Um- und Dazulernen für alle Altersstufen zu gehen.

Im Grunde müssen wir tatsächlich alle täglich Neues lernen. Ich habe in meiner beruflichen Laufbahn kontinuierlich immer wieder völlig neue Ausbildungen absolviert – gezwungenermassen. Da ich mich schon relativ lange mit den neuen Technologien in der Ausbildung befasse, sehe ich nebst einigen Risiken auch sehr grosse Chancen, die mit KI und VR verbunden sind. Um diese Chancen zu erkennen, muss man sich aber zuerst einmal auf die Materie einlassen.

Das horrende Tempo, mit dem Wissen veraltet und von neuen Erkenntnissen und Entwicklungen überrollt wird, schreckt viele ab. Ein Gefühl von Stress und Getriebensein greift um sich.

Das kann ich absolut nachvollziehen. Ich finde auch, dass KI viel zu schnell ins tägliche Leben der Menschen Einzug gehalten hat. Sie ist seit vielen Jahren völlig unsichtbar herangewachsen und inzwischen omnipräsent. 5G, Internet of Things, SmartTVs, Fitnessuhren, Roboter-Staubsauger, Smartphones und viele weitere Innovationen haben sich längst etabliert. Wer in zwei bis drei Jahren eine Lehrstelle sucht, wird wahrscheinlich bemerken, dass das Schulwissen, das er oder sie sich über 9 lange Jahre angeeignet hat, wirtschaftlich gesehen nur mehr wenig wert ist. KI wird jetzt sehr viel erlerntes Wissen übernehmen und in Sekundenschnelle neu aggregiert zur Verfügung stellen

Kann der wirtschaftliche Nutzen wirklich das wichtigste Ziel der Schulbildung sein?

Es entspricht meinem Verständnis als Lehrer, dass wir den Jugendlichen einen möglichst guten Start ins Leben allgemein, aber auch ins künftige Berufsleben ermöglichen sollten. Wenn wir sagen, dass uns als Lehrpersonen im Jahre 2023 die wirtschaftliche Entwicklung nicht interessiert, nehmen wir zumindest teilweise in Kauf, dass der Staat später für unsere Versäumnisse aufkommen muss – in Form von Sozialleistungen. Zentral in meinen Augen ist die Frage: Was muss ich den Schülerinnen und Schülern an Wissen mitgeben, damit sie mit dem Gelernten künftig ihr Geld verdienen können? Ich denke übrigens, dass Fächer wie Zeichnen, Gestalten, Musik oder auch Sport wieder an Wert gewinnen sollten, weil sie die psychische und körperliche Balance der jungen Leute fördern.

Welche Rolle werden die Eltern in diesem Prozess spielen?

Eltern, die aktiv im Arbeitsprozess stehen, werden früher oder später über ihren Arbeitgeber mit KI oder VR in Kontakt kommen. Die globalen Grosskonzerne in allen Industrien geben diese neuen technischen Standards jeweils vor. Der Zeitpunkt wird also bald kommen, wo sich Eltern berechtigterweise fragen, ob der bisherige Unterrichtsstil und die aktuellen Fächerprioritäten, auf die ihre Kinder in der Schule treffen, noch zeitadäquat sind. Wenn sie daran zweifeln, werden sie über kurz oder lang bei den Schulen intervenieren.

Am Mittwoch beantwortet Urs Rechsteiner, Leiter Bildung, in den «ZollikerNews» Fragen zu KI an den Zolliker Schulen

Jürg Schmid

*Jürg Schmid (61) hat nach der Ausbildung zum Primar- und Sekundarlehrer an öffentlichen Schulen unterrichtet. Danach wechselte er in die Privatwirtschaft, um seinen Horizont zu erweitern und zu verstehen, welche Ansprüche Unternehmen gegenüber den Schulen haben. Er studierte nachträglich Vertriebsmanagement sowie Marketingstrategien und leitete über mehrere Jahre diverse Ausbildungsabteilungen für weltweit tätige, börsenkotierte Unternehmen. Nach seiner Frühpensionierung betätigte er sich als Vikar und Co-Schulleiter. Er engagiert sich heute für das Kinderhospiz, unterrichtet Flüchtlingskinder und betätigt sich als Referent und Sparringpartner zum Thema «Quo Vadis – Ausbildung & Digitalisierung». Er wohnt in Binz (Maur) und ist Vater von zwei erwachsenen Kindern.

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