«Wir wollen nicht nur den Zürichberg bespassen»

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4. Januar 2024 – Wie gelingt es dem Opernhaus Zürich, immer wieder neue und vor allem auch jüngere Besucher und Besucherinnen zu gewinnen? Claus Spahn, der Chefdramaturg des Hauses, schildert viele originelle und überraschende Initiativen und Aktionen. Sogar Vierjährige zählen zum Zielpublikum.

Szene aus «Die Hexe Hillary» (Fotos: Danielle Liniger, Opernhaus Zürich)
Szene aus «Hexe Hillary geht in die Oper» (Fotos: Danielle Liniger, Opernhaus Zürich)

INTERVIEW:  BARBARA LUKESCH

Herr Spahn, gemäss Schätzungen ist das Opernpublikum gemeinhin zwischen 55 und 60 Jahre alt. Gilt das auch für das Opernhaus Zürich?

Mein Eindruck ist, dass sich das Publikum mit der Intendanz Homoki etwas verjüngt hat. Wenn ich so in den Saal schaue, sehe ich doch viele sehr junge Gesichter. In einer Ballettvorstellung ist das sicher noch ausgeprägter als bei einer Wagneroper wie «Rheingold» oder «Siegfried».

Sind Sie mit dieser Altersdurchmischung zufrieden?

Ein Publikum, das nur aus 30-Jährigen besteht, werden wir nie bekommen. Wichtig ist, dass es nicht älter wird, und da besteht, wie gesagt, in Zürich keine Gefahr. Aktuell sind wir nicht vom Aussterben bedroht.

Das Opernhaus Zürich unternimmt viel, um sein Publikum zu verjüngen. Sie haben sogar ein spezielles «Programm Jung für Menschen ab 4 Jahren» eingeführt, das zahllose Angebote für Kinder und Jugendliche enthält. Wie kam es dazu?

Bereits zu Zeiten von Alexander Pereira gab es eine Person, die für Kinder- und Jugendtheaterarbeit verantwortlich war. Dieses Angebot haben wir massiv ausgebaut, personell, aber auch inhaltlich. Dazu gehört unsere jährliche grosse Kinderoper, dieses Jahr spielen wir «Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer». Da gibt es mindestens 12 Vorstellungen auf der grossen Bühne, mit dem ganzen Theaterzauber und zu günstigen Preisen. Das ist ein grosses Ding, mit dem wir sehr viele Menschen erreichen, auch Eltern und Grosseltern, von denen sicher etliche zum ersten Mal in die Oper kommen.

Für Kinder welchen Alters ist diese Oper gedacht?

Die Mädchen und Jungen sollten idealerweise 7 bis 8 Jahre alt sein.

Claus Spahn, Chefdramaturg am Opernhaus Zürich (Foto: Tanja Krebs)
Claus Spahn, Chefdramaturg am Opernhaus Zürich (Foto: Tanja Krebs)

Für die «Operneinsteiger*innen ab 5 Jahren» bieten Sie auf Ihrer Website das Stück «Hexe Hillary geht in die Oper» an. Es fällt auf, dass Sie dieses Stück immer wieder zeigen. Offenbar ein Dauerbrenner, der sich bewährt hat.

Das ist so. Wir bieten neben der grossen Kinderoper zusätzlich noch eine kleinere Oper auf der Studiobühne an, da haben wir verschiedene Stücke ausprobiert: «Konrad aus der Konservendose», ein Märchen wie «Die Gänsemagd». Aber die «Hexe Hilllary» ist der Hit. Die haben wir in der ersten Spielzeit von Andreas Homoki 2012 ins Programm genommen. Ausverkauft! Das ist so geblieben. Jedes Mal, wenn wir das Stück zeigen, haben wir ein volles Haus.

Wirklich überraschend ist, dass Sie bereits 4-Jährige zu erreichen versuchen. Kann man denn so Kleine bereits für die Oper begeistern?

Wir haben ein ganz süsses Format, den «Klangteppich». Das ist ein grosser Teppich, vorne drauf sitzen die Kinder und drum herum ihre Eltern. Da zeigen wir natürlich sehr einfache, kindsgerechte Formen beispielsweise vom «Nussknacker». Es tanzt eine richtige Tänzerin aus unserer Ballettkompanie, drei, vier Musiker machen Livemusik, um die Kinder mit dieser besonderen Art von Musik in Kontakt zu bringen und wir erzählen eine Geschichte. Wenn es einem kleinen Jungen zu aufregend wird oder einem Mädchen zu gruselig, können sie problemlos zu ihrer Mama oder zu ihrem Papa rennen, etwas kuscheln und dann, ohne alle zu stören, wieder an ihren Platz auf dem Teppich zurückkehren. Das funktioniert grossartig.

Sie pflegen auch eine intensive Zusammenarbeit mit verschiedenen Schulen in Zürich. Schildern Sie uns doch etwas genauer, wie das aussieht.

Wir bieten in den Schulen halbtägige Workshops an, in denen wir die jungen Leute auf einen Opernbesuch vorbereiten. Nehmen Sie das Ballett «Peer Gynt». Da bemühen wir uns auch um inhaltliche Anknüpfungspunkte zwischen dem Leben der Jungen und Mädchen und dem Inhalt unserer Aufführungen. In diesem Fall haben wir den Workshop unter das Motto gestellt «Finde deinen Weg!» Damit sprechen wir unter anderem auch Sekundarschüler an, die bald die Schule verlassen und sich in der Berufswelt behaupten müssen.

Das heisst, Sie wenden sich mit Ihrem Angebot nicht nur an die Gymnasien?

Überhaupt nicht. Wir wollen alle Bevölkerungsschichten erreichen und keineswegs nur den Zürichberg bespassen. Rings um die Workshops gibt es noch einen Probenbesuch und einen Rundgang durch unsere Werkstätten. Auf diesem Weg stossen die jungen Leute vielleicht auch auf Berufe, die sie interessieren.

Wie viele Junge erreichen Sie mit diesen Workshops?

Viele. Wir haben inzwischen ein grosses Netzwerk unter den Lehrerinnen und Lehrern, mit denen die Kooperation wunderbar funktioniert. Darüber hinaus gibt es noch ein Angebot, das intensiver ist und mit dem wir nur einen kleineren Kreis erreichen. Das sind unsere sogenannten Hashtag-Projekte. Da arbeiten wir jeweils ein ganzes Jahr mit einer Gruppe von Schülern zusammen, letztes Jahr übrigens Absolventen einer Integrationsschule mit vielen people of colour und Flüchtlingen aus Syrien, inszenieren gemeinsam mit Choreographen und Musikerinnen ein Stück und präsentieren zuletzt das Ganze auf unserer Studiobühne.

Welche Ziele verfolgen Sie mit diesem Engagement?

Zum Einen haben wir als hochsubventioniertes Haus auch eine kulturpolitische Verantwortung für alle gesellschaftlichen Schichten, denen wir beispielsweise mit unseren Workshops etwas zurückgeben wollen. Es existiert eine ganze Liste mit Leistungsvereinbarungen, die zwischen dem Kanton und dem Opernhaus bestehen. Darin steht ausdrücklich, dass wir Education beziehungsweise Vermittlungsarbeit leisten müssen. Ich bin sicher, dass es ernsthaften politischen Druck gäbe, wenn wir uns diesen Aufgaben entziehen würden.

Auf der anderen Seite versuchen Sie ja all die jungen Menschen auch anzusprechen, um neues Opernpublikum zu gewinnen?

Ja, klar. Die Kleinen erreichen wir über ihre Eltern oder Grosseltern, die mit ihnen zum Beispiel den «Klangteppich» oder die «Hexe Hillary» besuchen. Da ist es kein Problem, unsere Veranstaltungen zu füllen. Doch bei den 12- bis 18-Jährigen wird es schwierig. Offenbar haben viele Teenager Vorbehalte gegen das Elternding Oper, diese Institution für alte Menschen. Interessanterweise erreichen wir diese Altersgruppe aber über die Schulen, was für uns sehr wertvoll ist.

Wie wichtig Ihnen diese Zielgruppe ist, zeigt sich auch daran, dass Sie einen «Club Jung» für alle zwischen 16 und 26 ins Leben gerufen haben. Mit einer einmaligen Aufnahmegebühr von 20 Franken wird man Mitglied und kann fortan für 15 Franken in die Oper gehen. Welche Überlegung steckt dahinter?

Wir hätten ja auch ein anonymes Legi-Angebot für Studenten machen können. Uns geht es aber mit dem «Club Jung» auch darum, mit diesen jungen Leuten in Kontakt zu kommen, über Instagram- und WhatsApp-Gruppen mit ihnen zu kommunizieren. Wir wollen ihnen auch spezielle Angebote machen: Aperos für Interessierte, kleine Gesprächsrunden über einzelne Stücke, Angebote für Probenbesuche und den Blick hinter die Kulissen ermöglichen. Dass wir 20 Franken Aufnahmegebühr verlangen, soll die Verbindlichkeit erhöhen; die einzelnen sollen damit so etwas wie eine Art Selbstverpflichtung eingehen.

Spannend wird ja, was diese Altersgruppe macht, wenn sie älter wird, ins Berufsleben tritt, Kinder bekommt und weniger Zeit und Geld für Freizeitvergnügen wie die Oper hat.

Da gab es tatsächlich lange Zeit eine Lücke, und es bestand die Gefahr, dass uns diese Leute wieder verloren gehen. Nun hat unsere Marketingabteilung ein neues Angebot, angelehnt an die «Freunde des Opernhauses» kreiert: «Junior Freunde des Opernhauses», die sich an genau diese Altersgruppe richtet. Verglichen mit dem sehr traditionsreichen Verein der «Freunde» kommen die «Juniors» in den Genuss vergünstigter Mitgliederbeiträge. Unsere Hoffnung ist natürlich, dass wir sie damit bei der Stange halten und zu vielen weiteren Opernbesuchen animieren können.

Man gewinnt den Eindruck, dass das Opernhaus sehr viel dafür tut, sich zu öffnen und das Image der elitären Kulturinstitution, die wenigen Reichen vorbehalten ist, abzustreifen. Offenbar mit Erfolg: Die jährlich stattfindende «Oper für alle», eine kostenlose Opernübertragung auf dem Sechseläutenplatz, ist jeweils ein Riesenerfolg.

Ja, da kommen 12’000 Menschen.

Was macht diese Veranstaltung so attraktiv?

Sie hat einen besonderen Charme. Man fühlt sich als Gemeinschaft, die auf einem fantastischen Platz etwas Schönes erlebt. Die Leute kommen mit ihren Stühlen und Picknick-Körben, bringen ihren Sekt oder Rosé mit, meistens ist das Wetter wahnsinnig schön und es herrscht so eine entspannte Abendstimmung. Wir haben auch Laufkundschaft, die spontan stehen bleibt und mitschaut. Ich glaube, dieses Angebot bringt viele Menschen in Kontakt mit der Oper, die sich einen Besuch normalerweise nicht leisten können oder schlicht noch keinen Kontakt hatten. Dass es gratis ist, spielt natürlich eine ganz grosse Rolle.

Auch das Eröffnungsfest, mit dem Sie jeweils die neue Saison einläuten, ist gratis, und auch an diesem Anlass strömen die Leute in Scharen ins Opernhaus.

Es ist eine Art Familienfest, an dem man hinter die Kulissen und in die Werkstätten schauen, aber auch die öffentliche Hauptprobe besuchen kann. Es findet jeweils am Samstag statt und am darauffolgenden Sonntag zeigen wir die erste Premiere der Saison. Wir sind überzeugt, dass wir dank dieser Initiativen viele Vorurteile, die gegenüber der Oper bestehen, abbauen können. Wer einmal die «Oper für alle» oder unser Eröffnungsfest erlebt hat, kann schwerlich behaupten, wir seien eine elitäre Kulturinstitution für die «Happy Few».

Aber teuer ist ein Opernbesuch schon.

Wir bieten aber auch sehr viele Vergünstigungen, nicht nur an den Volksvorstellungen, sondern auch am Opernhaus-Tag, wo man nur die Hälfte zahlen muss. Dazu kommen die Jungen in starkem Masse in den Genuss von reduzierten Preisen.

Wie ist denn die Auslastung?

In der Spielzeit 2022/23 kommen wir auf knapp 90 Prozent für die Oper. Vor der Pandemie hatten wir mit 92 Prozent das Rekordergebnis in der Geschichte des Opernhauses erzielt, dann hat uns Corona zurückgeworfen, und nun sind wir dabei, uns zurückzukämpfen. Das Ballet unter Christian Spuck war mit phänomenalen 98 Prozent ständig nahezu ausverkauft.

Claus Spahn, 62, ist in der Nähe von Frankfurt geboren. Er hat in Freiburg im Breisgau Musik studiert und dann eine Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München gemacht. Anschliessend hat er zehn Jahre als freier Journalist, unter anderem fürs Radio, gearbeitet und war in der Folge bei der «Süddeutschen Zeitung» und der «Zeit» als Feuilletonredaktor mit dem Spezialgebiet Oper und klassische Musik angestellt. 2012 wechselte er auf die andere Seite, um selber Musik zu machen und wurde Chefdramaturg am Opernhaus Zürich. 2025 wird er gemeinsam mit Andreas Homoki, dem Intendanten, mit dem er auch gekommen ist, das Haus verlassen, um noch einmal etwas Neues zu machen.

Ode an die Oper: Sechs überraschende Liebesgeschichten
Teil 1: Eine Träne für Violetta
Teil 2: «Die Oper ist das Fussballstadion der Schwulen»
Teil 3: Feuer und Flamme für Jonas Kaufmann
Teil 4: «Ich möchte weitergeben, wofür ich brenne»
Teil 5: Bei «Carmen funkte es endgültig»

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