Zu Besuch bei Satan im Moder-Mikado
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Thomas Widmer: «Gut, konnte ich den Tüfels-Chäller nah Baden bei gutem Wetter durchqueren – so hielt sich die Unheimlichkeit in Grenzen. Faszinierend ist der düstere Ort mit dem Totholz und den Nagelfluhblöcken auf jeden Fall.»
VON THOMAS WIDMER
Meine Aargauer Wanderung beginnt mit einem knackigen Rüebli. Gegen acht Uhr starte ich eines Samstagmorgens am Bahnhof von Baden, durchquere als erstes die Altstadt, es ist Märit. Am Stand der Grünen fängt mich ein Mann ein, fragt, ob ich in Baden stimmberechtigt sei, schenkt mir auf mein Nein hin doch ein Rüebli. Samt Kraut, sauber gewaschen, schön frisch. «Vielleicht denken Sie ja an die Grünen, wenn bei Ihnen zuhause gewählt wird.» Versprechen kann ich das nicht, ziehe aber doch mit guten Gefühlen weiter.


Beim «Whisky Shop» teilen sich die Routen, ich könnte jetzt zur Burgruine Stein aufsteigen. Stattdessen wähle ich die andere Variante Richtung Oberstadt. Es folgt eine grauslige Riesenunterführung mit Velos, die aus allen Richtungen heranschiessen – Rücksichtslosigkeit auf zwei Rädern.
Nachdem ich aus dem betonierten Untergrund aufgetaucht bin, passiere ich das Klösterli, einen grossen Bau in markantem Gelb, in dem einst Kapuzinerinnen lebten. Und schon bin ich beim 2004 stillgelegten Bahnhof Oberstadt.
Jene Bahngesellschaft, der er ursprünglich zugehörte, ist schon viel länger Geschichte. Die »Schweizerische Nationalbahn» verstand sich als Volksunternehmen, finanzierte sich nicht aus privatem Kapital, sondern durch Beiträge angrenzender Gemeinden. Sie baute ein Netz vom Bodensee bis in den Aargau auf, ging aber nach wenigen Jahren 1878 in Konkurs. Die Partner der Nationalbahn mussten dann Jahrzehnte lang ihre Schulden abstottern, die Stadt Winterthur zum Beispiel bis 1952.

Im Bahnhofgebäude hat sich eine Kunstgalerie einquartiert. Unkraut wuchert am Perron, Sträucher und Büsche sind schon länger nicht geschnitten worden, das Gelände wirkt verlassen. Sehr schön, es gibt hierzulande weiss Gott genug gnadenlos genutzte Flächen. Es macht Spass, zwischendurch auch in einer Stadt eine Brache anzutreffen.
Via eine Passerelle gelange ich auf die andere Seite der Schienen. Umkurve die Bauten einer Schule (KV Aargau Ost) und lande alsbald in einem Wald, der mich länger nicht mehr freigeben wird – huch, das klingt unheimlich. Noch 20 Minuten bis zum Tüfels-Chäller.
Das Gelände wird nun schnell, sagen wir mal, mysteriös. Chaostage im Wald, überall liegen umgestürzte Bäume, seit Jahrzehnten wird hier kein Holz geschlagen. Eine Art Moder-Mikado ist das Resultat. Zur Möblierung des feuchtelnden, von Hügeln und Mulden durchzogenen, reichlich mit Moos gepolsterten Geländes gehören zudem unzählige Nagelfluhblöcke. Sie stürzten vor 100 000 Jahren die Flanke der Baregg hinab.

Der Teufel, der ja auch als gefallener, als verstossener Engel gedeutet wird, hält sich hier auf. Heisst es wenigstens. Nun, ich begegne ihm nicht und fühle mich auch nicht sonderlich beklommen. Zu hell ist der Tag. Und auch der Lärm vom nahen Ausgang des Baregg-Autobahntunnels ist der Magie des Ortes abträglich. Dieser war wohl viel einsamer, als der Teufel sich hier ansiedelte.
Sanft geht es nach dem Tüfels-Chäller aufwärts, der Wald ist nun wieder manierlich. Ich passiere zwei Gebäude, zum einen die Herzoghütte, die grad umgebaut wird, zum anderen einen riesigen Bunker aus Kriegszeiten.


Vor Fisisbach erreiche ich den Waldrand, sehe nun übers freie Land. Und riskiere bald ein Glotzduell mit einer Kuh. Ich glotze, sie glotzt, ich glotze, sie glotzt. Als sie schliesslich den Kopf senkt, fühle ich mich nicht gross als Sieger. Ihr ist schlicht das Gras wichtiger, dem sie jetzt wieder unter zufriedenem Schnauben zuspricht.

In Fisisbach entdecke ich als erstes den Wurststand der «Chämi Metzg». Es ist noch nicht einmal zehn Uhr morgens, doch stehen da schon Männer – nur Männer – mit einer Bratwurst in der Hand. Ich möchte auch, verzichte aber, weil ich einen anderen Essplan habe. Immerhin gönne ich mir im Ladenzentrum Gugger im griechischen Restaurant einen Espresso und ein Gipfeli.
Stets sind es auch die kleinen Dinge, die eine Wanderung gut machen. Zum Beispiel der Kellner im Restaurant, ein junger Typ mit Bart, der mir ein zweites Gipfeli offeriert, weil das erste klein war. Oder der Doppeldecker, der eine Viertelstunde später am Ortsausgang unglaublich dekorativ über den Himmel brummt. Oder das kleine Mädchen, das gleich danach auf dem Selberpflückfeld des Guggerhofes wie irre herumhüpft. Kann der Anblick von Gemüse eine derartige Euphore bewirken? In mir leider nicht.

Noch einmal geht es aufwärts. Und noch einmal abwärts durch eine Hohle Gasse im Miniformat. Und dann lange ich auch schon – und wieder einmal – im Mittelalterstädtchen Mellingen an. Und bin somit von der Limmat an die Reuss gewandert. Easy wars.


Vor dem «Löwen» setze ich mich in die Sonne, trinke ein Bier und geniesse das Angekommen-Sein. Jetzt könnte ich den Zmittag bestellen. Und wäre ich später in Baden gestartet, hätte ich auch schon in Fislisbach hervorragend speisen können in der «Linde». Aber, wie gesagt, habe ich anderes im Sinn.
Ich fahre heim. Rüste einen Butternusskürbis. Brate ihn mit Öl und Zwiebel an, gebe eine ebenfalls gewürfelte gelbe Zuchhetti bei und zwei Wienerli. Und Pfefferschoten, die mir Kollegin Ruth aus Laos mitgebracht hat. Und reichlich Curry.
Meine erste Kürbissuppe des Herbstes schmeckt toll. Ah ja, noch etwas Klärendes. Solche Suppen püriere ich nie. Ich mag es, wenn alle Gemüsesorten noch einzeln schmeckbar sind. Und ich habe ja im Moment noch alle Zähne.
Zum Essen öffne ich einen Weissen. Und proste über die Distanz dem Teufel zu. Er hat’s nicht leicht da draussen in seinem Keller. Würde mich nicht wundern, wenn der arme Kerl Rheuma hätte.

Anforderung: 10 km, 205 Meter aufwärts, 241 Meter abwärts. 3 ½ Stunden.
Route: PDF von SchweizMobil

Thomas Widmer wohnt im Zollikerberg, ist Reporter bei der «Schweizer Familie» und hat mehrere Wanderbücher verfasst. Er wandert zwei Mal pro Woche und sagt: «Man wandert nicht nur durch eine Landschaft. Sondern auch durch die Kultur, die Geschichte, die Politik. Wenns dazu etwas Gutes zu essen gibt: grossartig!»