Der fromme Bisexuelle vom Zollikerberg

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7. April 2023 – Pfarrer Hans van der Geest hält die Verknüpfung von Lust und Sünde für eine der grössten Katastrophen in der Geschichte der Theologie­. Vor 40 Jahren verlor er wegen seiner Bisexualität die Anstellung beim Diakoniewerk Neumünster.

Hans Van der Geest zuhause in Zürich an seinem Klavier (Foto: Annick Ramp)
Hans van der Geest zuhause in Zürich an seinem Klavier (Foto: Annick Ramp)

VON BARBARA LUKESCH

Es war ausgerechnet ein Artikel über die Liebe, der dazu führte, dass jemand das Wort «Sau» an die Garagen­tür von Hans van der Geest sprayte.

Das war 1982. Damals stand in der Schweiz eine Revision des Sexual­strafrechts auf der politischen Agenda, die vorsah, Hetero- und Homo­sexualität gleichzustellen: In beiden Fällen sollte das Schutzalter 16 Jahre gelten. Für gleich­geschlechtliche Beziehungen hatte es bisher bei 20 Jahren gelegen.

Der Christliche Verein junger Männer und Frauen, auch bekannt als Cevi, sah in der gleich­geschlechtlichen Sexualität nach wie vor krankhaftes Fehl­verhalten und sprach sich in einem Kommentar im «Kirchenboten» gegen die Reform aus. Der Chef­redaktor des Blatts war mutig und wollte das heisse Eisen anpacken. Er suchte eine Stimme, die das Anliegen der Revision unterstützte. 

Doch in der sieben­köpfigen Redaktion wollte sich niemand exponieren. Bis Hans van der Geest erklärte, er übernehme diesen Part. Er war damals Pfarrer, Seelsorger am Diakonie­werk Neumünster im Zollikerberg, wo er mit seiner Familie wohnte, und redaktioneller Mitarbeiter des Blatts. 

So erschien am 16. Mai 1982 ein Artikel mit dem Titel «Liebe mit Leib und Seele», in dem sich Hans van der Geest – gemäss Untertitel – den «biblischen Aspekten der gleich­geschlechtlichen Liebe» widmete. Er vertrat eine differenzierte liberale Position:

«Die Frage, ob eine sexuelle Beziehung verantwortbar ist, wird aber nicht durch ihre Form, homo oder hetero, entschieden, sondern durch ihren inneren Gehalt (…). Wenn Menschen einander persönlich achten und zueinander­stehen, ist keine Form des Liebes­ausdrucks böse. (…) Es ist nicht ‹besser›, das andere (oder das eigene) Geschlecht zu lieben.»

Van der Geest zitierte auch Bibel­stellen, mit denen er seine Argumentation untermauerte. Etwa diese: «David über seinen Freund: Du warst mir so hold. Deine Liebe war mir köstlicher als Frauenliebe» (zitiert nach 2. Sam. 1,26).

Grosser Protest

Die Reaktionen waren heftig. In geharnischten Leser­briefen protestierten Kirchen­mitglieder gegen den «unbiblischen Liberalismus». Man «manipuliere» die Leser und führe sie «in die Irre», hiess es unter anderem. Ein von 13 Pfarrern unterzeichneter Protest­artikel beschwor die Folgen, die van der Geest mit seinem Artikel auslösen könnte: «Wo kämen wir hin, wenn einfach zwei, die sich sympathisch sind und Liebe verspüren, ihr ‹leib-seelisches Lust­erlebnis› haben dürften.» 

Und schliesslich versprayte jemand die Garagen­tür der Familie van der Geest.

Wie hatte es der damals knapp 50-jährige Theologe riskieren können, sich bei diesem vor allem in Kirchen­kreisen hoch umstrittenen Thema derart zu exponieren?

Als Ausbildner ein Ausnahmetalent

Der gebürtige Holländer galt zu der Zeit als Star in Kirchen­kreisen. Seine Predigten begeisterten die Leute, und seine seelsorgerlichen Fähigkeiten trugen ihm den Ruf eines Ausnahme­talents ein. Das Gespräch war ihm sehr wichtig, und er propagierte «diszipliniertes Zuhören». Vom «mechanischen Aufsagen von Bibel­zitaten» habe er nie etwas gehalten.

Kein Wunder, zog er als Ausbildner Hunderte von Studenten aus dem In- und Ausland an. Seine Kurse führten jahrelang die Hitliste kirchlicher Weiter­bildungs­angebote an. Hatten diese Erfolge dazu beigetragen, dass er die gesellschaftliche Realität jener Jahre und vor allem die Empfindlichkeiten konservativer Kirchen­kreise aus den Augen verlor?

Es gibt noch eine weitere Vorgeschichte, die vieles erklärt. Van der Geest hatte schon Ende 1978 im Reformierten Bildungs­zentrum Boldern, hoch über dem Zürichsee, eine aufsehen­erregende Rede gehalten. Das Thema: Homo­sexualität und christliche Moral.

Seinem Auftritt voraus­gegangen war eine Sitzung mit den Organisatoren, an der er dafür plädiert hatte, dass sich Schwule und Lesben in der Öffentlichkeit nicht zu erkennen geben sollten, um sich keinen unnötigen Ärger einzuhandeln. Ein Vertreter einer Schwulen­organisation kritisierte diesen Vorschlag als «subtile Form der Unter­drückung». Man lasse Betroffene im Stich und verwehre ihnen auf diese Art Vorbilder, an denen sie sich orientieren könnten.

Van der Geest realisierte sofort, dass sein Gegenüber recht hatte, und schämte sich für seine Verzagtheit: «Die Konfrontation mit diesem Mann war mein Bekehrungs­erlebnis.» Er spürte, dass er bei diesem Thema keine halben Sachen mehr machen durfte: «Ich empfand ein tiefes Verlangen, das, was ich im persönlichen Leben tat, öffentlich zu bezeugen.»

«Warum nicht gleich Sex mit Tieren?»

Denn Hans van der Geest, damals Mitte 40, Vater dreier Kinder und nach fast 20 Jahren Ehe geschieden, hatte auch Liebes­beziehungen mit Männern. Bisexuell zu sein, war in dieser Zeit aber ein Riesen­tabu, weshalb er sich nicht outen wollte. Seine Scheidung hatte seinen Ruf bereits arg beschädigt und ihn die Beziehung zu einigen Freunden und Kolleginnen gekostet.

Auf der Boldern forderte er immerhin, «Homo­sexualität als eine respektable Angelegenheit zu betrachten und nicht als eine tolerierbare Armseligkeit». Doch selbst auf diese moderate Aussage folgte harsche Kritik. So warf ihm beispielsweise ein ETH-Professor für Philosophie «Verwirrung des Denkens» vor. Ein Kommentator im konservativen «Badener Tagblatt» fragte bösartig: «Warum nicht gleich Sex mit Tieren versuchen?» Weitere Folgen hatte sein Auftritt damals aber noch nicht.

Ein filigraner, hellwacher alter Mann

Heute schmunzelt van der Geest, wenn er von den längst vergangenen Zeiten erzählt. Er ist fast 90, ein filigraner alter Mann, sehr gepflegt und noch recht gut auf den Beinen, aber ein wenig beeinträchtigt, weil sein Gehör nachgelassen hat und ihn die Hörgeräte «furchtbar stören». In seiner hellen und geräumigen Wohnung in der Nähe des Zürcher Kreuz­platzes serviert er einen ausgezeichneten Kaffee, er selber öffnet sich ein Fläschchen San Pellegrino bitter.

Vor ihm liegt eine Bibel, doch seine Aufmerksamkeit gehört ganz dem Gegenüber. Er ist hellwach während des mehrstündigen Gesprächs und erinnert sich minutiös an die «ganze Geschichte», die ihn nach der Publikation des Artikels im «Kirchenboten» dazu zwang, sein Leben neu auszurichten.

Seine Arbeitgeberin, das Diakoniewerk Neumünster in Zollikerberg, reagierte zusehends gereizt auf die vielen Briefe und Telefonate von Menschen, die van der Geests Entlassung forderten. Konservative Kreise empörten sich, dass er die Bibel missbrauche, indem er die Homo­sexualität legitimiere.

Er selber sei lange Zeit ruhig geblieben, erzählt van der Geest, und habe sich damit verteidigt, dass er ein «konservativer Theologe und frommer Christ mit sehr liberalen Moral­vorstellungen» sei. Alle Erklärungen nützten ihm allerdings nichts mehr, als ihn sein direkter Vorgesetzter vor dem Stiftungsrat outete: Hans van der Geest pflege selber sexuelle Beziehungen zu Männern, ja, schlimmer noch, mit Teilnehmern seiner Seelsorger­kurse. Auch wenn er den Vorwurf mit den Kurs­teilnehmern noch heute vehement bestreitet, war sein Schicksal besiegelt; er wurde entlassen. Daran konnte auch die Fürsprache zweier bekannter Professoren für Theologie aus Basel und Zürich nichts mehr ändern.

In seiner Biografie, einem kleinen Büchlein, das sein ältester Sohn Edwin für die Familie hat schreiben lassen, heisst es: «Nach neun Jahren war die Ära Neumünster zu Ende. Am 12. Dezember 1982 hielt Hans seine Abschieds­predigt.»

Eine neue Rolle

Doch bald öffnete sich eine neue Tür. Der damalige Präsident des Kirchenrats, Pfarrer Ernst Meili, war stets hinter ihm gestanden und fand, seine sexuellen Vorlieben seien Privat­sache. Er half ihm dabei, eine Anstellung bei der Zürcher Landes­kirche zu bekommen, und sorgte dafür, dass er seine begehrten Seelsorger­kurse im Bildungs­zentrum Boldern weiterführen konnte.

Das gesicherte Einkommen habe ihn als Vater dreier schulpflichtiger Kinder natürlich sehr beruhigt, erinnert sich van der Geest. Er habe jedoch seine Tätigkeit als Pfarrer vermisst, insbesondere das Predigen vor damals noch vollen Kirchen­bänken.

Dass ihn die Zeitungen, allen voran die Boulevard­medien, nach dem Rauswurf zum «Sex-Pfarrer der Schweiz» stempelten, war kein Nach­teil für ihn. Im Gegenteil: Gerade deshalb vertrauten sich ihm viele Menschen an, die Probleme mit ihrer Sexualität und ihren erotischen Vorlieben hatten. So wuchs er in eine neue Rolle hinein.

Van der Geest fand jeweils schnell einen Draht zu den Ratsuchenden und begegnete ihnen frei von Vorurteilen. Seine eigene sexuelle Entwicklung, sagt er im Gespräch am Wohnzimmer­tisch, sei ja hindernis­reich genug gewesen: «Da hatte ich volles Verständnis für die Nöte dieser Menschen.»

Verrat an der «Liebe seines Lebens»

Selber hatte er mit 16, noch in den Niederlanden, erste sexuelle Erfahrungen mit einem Kollegen gesammelt: «Das Übliche: sehr verspielt und nicht mehr als gemeinsames Masturbieren.» Schön sei es gewesen, sehr schön sogar. Gross beunruhigt habe ihn diese Episode nicht. Denn ihm sei von früh auf klar gewesen, dass er Pfarrer und Familien­vater werden wolle: «Dafür betete ich jeden Tag.» Also musste er eines Tages eine passende Frau kennenlernen, mit der sich diese Pläne verwirklichen liessen.

Doch bevor es dazu kam, lernte er Martin kennen: Hans war 27, Martin zehn Jahre jünger. Als Sohn eines gehörlosen Vaters und einer blinden Mutter war der 17-Jährige daran gewöhnt, viel Verantwortung zu übernehmen: «Daher war er seelisch und mental viel reifer, als sein Alter vermuten liess», erzählt van der Geest. Die beiden verliebten sich heftig und kamen sich auch körperlich näher. Als sie dann zum ersten Mal eine Nacht zusammen verbrachten, sei das traumhaft schön gewesen, voller Leidenschaft und Liebe. Er habe keinerlei Schuld­gefühle gehabt, sagt van der Geest. Doch bei Tages­licht sei er zu Tode erschrocken und habe gewusst, dass er diese Beziehung auf der Stelle beenden musste. 

Er zögert und schaut eine Weile zum Fenster hinaus. Dann sagt er leise: «Martin war die Liebe meines Lebens, und ich habe ihn schwer enttäuscht.»

Ein Jahr später lernte er Bea kennen und wusste bald: «Das ist die Richtige.» Er sei selber überrascht gewesen, wie sehr er in sie verliebt gewesen sei und wie begehrens­wert er sie gefunden habe. Alles auf Kurs also, freute er sich. «Das Getue mit den Männern» würde er nun hinter sich lassen; das sei nicht mehr als eine Lebens­phase gewesen, redete er sich ein.

Jetzt setzte er seinen Plan um: Heirat, drei Kinder, berufliche Erfolge, später dann Umzug von Holland in die Schweiz. Ihre Ehe sei äusserst harmonisch verlaufen; seine Frau sei die beste Gesprächs­partnerin gewesen, die man sich hätte wünschen können, intelligent, aufmerksam, verständnisvoll. Dazu hätten ihn die Geburt seiner drei Kinder und ihr Aufwachsen derart beglückt, dass er sich einredete, alles sei gut.

Risse im Schutzpanzer

Bis dahin hatte er sich nie mehr auf Männer eingelassen. Er war allen Versuchungen regelrecht aus dem Weg gegangen. Martin schickte er einmal ungnädig fort, als dieser ihn besuchen wollte. Doch nun nahm er immer häufiger an Selbst­erfahrungs­-Workshops teil, die ihn durch­schüttelten. Sein Schutz­panzer bekam Risse. Die Annäherungs­versuche verschiedener Männer verwirrten ihn stärker, als ihm lieb war. Schliesslich gab er den Widerstand auf: «Ich musste mir eingestehen», sagt er heute, «dass sich meine Sehnsucht nach Männern nicht länger unterdrücken liess.»

Immer noch darauf bedacht, seine Ehe zu bewahren, schlug er seiner Frau zunächst vor, mit einem befreundeten, sexuell sehr freizügigen Paar eine Liebes­nacht zu viert zu verbringen. Sie willigte zwar ein, fühlte sich dabei aber alles andere als wohl. Solche Eskapaden wollte sie nicht noch einmal.

Edwin, der älteste Sohn, war damals 12 Jahre alt. Bislang hatte er die Ehe seiner Eltern als «extrem harmonisch» empfunden. Nun spürte er auf einmal Spannungen zwischen den beiden. Er war von seiner Mutter eingeweiht worden, dass der Vater mit der Idee des Partner­tauschs spiele. Der inzwischen 59-jährige Sohn sitzt im hellen Wohnzimmer seines Hauses in Zollikon und zuckt die Achseln: «Was sollte ich mit dieser Information anstellen?» Es sei für ihn als Sechst­klässler vor allem belastend gewesen, zu merken, wie sehr die ganze Situation seine Mutter bedrückt habe.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Hans van der Geest eröffnete seiner Frau, dass er Männer so sehr begehre, dass er sexuelle Beziehungen mit ihnen eingehen wolle: «Ich wollte Bea auf keinen Fall betrügen», sagt er. Er habe seine Affären mit Männern nie als Untreue empfunden. Hätte er sie hingegen vor seiner Frau verheimlicht oder ihr Lügen erzählt, wäre er sich sehr wohl als Verräter vorgekommen.

Scheidung nach endlosen Gesprächen

Das Paar führte endlose Gespräche, um die vertrackte Lage zu klären. Das Wort Bisexualität war damals noch nicht geläufig. So erzählte Hans van der Geest seiner Gattin Bea, dass ihn Männer auf eine andere Art anziehen als Frauen: «Ein schöner Mann weckt in mir leidenschaftlichere Gefühle als eine schöne Frau.» Aber er schmuse auch gern mit ihr und wolle sie keinesfalls verlassen. Er könne sich sowieso nicht vorstellen, mit einem Mann zusammen­zuleben.

Das sei ein ewiges Hin und Her gewesen, und er habe sich grosse Mühe gegeben, ihr nicht wehzutun. Doch habe er realisiert, dass er nicht auf Sinnlichkeit und Sexualität mit Männern verzichten wolle: «80 zu 20 zugunsten der Männer» – so beziffert er heute seine Vorliebe.

Edwin musste mit ansehen, wie schwer es seiner Mutter fiel, mit den neuen Anforderungen zurecht­zukommen. Nach jeder Affäre des Vaters habe sie vergeblich gehofft, dass es die letzte sei. Hans van der Geest war ein attraktiver Mann, der sich nach vielen Jahren der Zurück­haltung nun mit Männern erotisch ausleben wollte. 

Sechs Jahre nach dem Coming-out kam es zwischen den Eltern zum Bruch: Die Mutter wollte die Scheidung, die 1981 vollzogen wurde. Ein Jahr später verlor er seinen Job.

«Ich habe mich damals wirklich verrannt»

Bereits vor seiner Entlassung hatte er den Bestseller «Unter vier Augen. Beispiele gelungener Seelsorge» veröffentlicht, der heute noch verkauft wird – mittlerweile in der achten Auflage. Danach veröffentlichte er die Geschichten jener Menschen, die mit ihren sexuellen Neigungen nicht zurechtkamen, unter dem Titel «Verschwiegene und abgelehnte Formen der Sexualität – Eine christliche Sicht» (antiquarisch erhältlich). Mit dieser Textsammlung erregte er einmal mehr Aufmerksamkeit – und Empörung.

Van der Geest hatte tatsächlich ein Kapitel in das Buch aufgenommen, das Zündstoff barg. In «Kinderliebe» zeigt er viel Verständnis für Pädophile, beteuert, dass es einvernehmliche Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen geben könne, die selbst­verständlich frei von Gewalt und Manipulation sein müssten. Daraufhin kam es zu lautstarken Protesten.

Fragt man ihn heute, ob er dieses Kapitel nach wie vor veröffentlichen würde, schüttelt er den Kopf: «Nein, ich glaube, ich habe mich damals wirklich verrannt und das Ausmass des Problems verkannt.» Er habe sich von einigen Pädophilen, die bei ihm Rat suchten und sehr freundlich waren, zu stark beeinflussen lassen, sagt van der Geest. Dazu sei es ihm offenbar nicht gelungen, deutlich zu machen, dass es ihm viel mehr um die Rechte der Kinder auf eine eigene Sexualität als um das Ausleben pädophiler Neigungen gegangen sei.

«Lust ist ein herrliches Wunder»

Der Verkauf lief grossartig. 3000 Exemplare waren im Nu weg. Das Buch bietet gläubigen Christen denn auch zahlreiche Gedanken­anstösse, dank denen sie ihre sexuelle Lust aus dem Dunst­kreis der Sünde befreien können. Die Verknüpfung von Lust und Sünde gehe auf die leibfeindlichen Einflüsse der Gnostiker in den ersten Jahrhunderten des Christentums zurück und beherrsche nach wie vor das Denken vieler Menschen, sagt van der Geest. Für ihn ist sie «eine der grössten Katastrophen in der Theologie­geschichte». Selber sieht er die Gefühls­welt ganz anders: «Lust zu erleben, ist ein herrliches Wunder! Amen.»

Auch mit der bürgerlichen Leistungs­ideologie kann er nichts anfangen; sie habe einen enorm zerstörerischen Einfluss auf die Sexualität. Das sei auch kein Wunder, denn die Sinnlichkeit stelle so ziemlich alles infrage, was die Leistungs­ideologie propagiere: «Sexualität ist unrentabel, sie kostet Energie, und zwar viel, sie orientiert sich ungern an der Uhr; denn alle Lust will Ewigkeit.»

Bisexualität als Lebensthema

1993 lässt sich Hans van der Geest mit 60 Jahren frühzeitig pensionieren. Er lebt allein, hat allerdings eine Freundin, mit der ihn eine intensive Beziehung verbindet. Gleichzeitig aber hat er immer wieder auch stürmische Affären mit Männern.

Er entdeckt in diesen Jahren seine Leidenschaft für die italienische Oper und spielt immer eifriger Klavier. Der Flügel in seiner Wohnung zeugt davon. Im Laufe des Morgens stimmt er die Arie «O don fatale» aus Verdis «Don Carlos» an.

Hans van der Geest stimmt «O don fatale» aus «Don Carlos» an
Hans van der Geest stimmt «O don fatale» aus «Don Carlos» an…

Er vertieft seine Fähigkeiten auf dem Gebiet des Kochens und Backens, nimmt regen Anteil am Leben seiner Kinder und Enkel. Dazu hat er sich eine Nähmaschine gekauft und fertigt sowohl Hemden wie Hosen und Anzüge selber. Stolz zeigt er an diesem Morgen auf sein perfekt sitzendes kariertes Hemd: «Eigenfabrikation!»

Gleichzeitig schreibt er mehr denn je. Dem Thema Bisexualität widmete er dabei nicht weniger als 13 Romane. In den Geschichten versuchen verheiratete Männer den Spagat zwischen Ehe und schwuler Liebe: Sie heissen «Das Liebesnest», «Wilde Treue» oder «Arthurs Favorit».

Hans Van der Geest
… und zeigt sein Werk «Arthurs Favorit» Fotos; bl

Dass er sich noch bis ins hohe Alter dermassen für sein Lebens­thema ins Zeug gelegt hat, begründet er damit, dass Bisexuelle trotz sexueller Revolution «nach wie vor kaum wahrgenommen werden und auf wenig Verständnis stossen». Das grosse Problem, das sie der bürgerlichen Gesellschaft bereiteten, sei ihr Umgang mit der Treue: «Bisexuelle neigen naturgemäss nun einmal dazu, sexuell auf verschiedenen Hochzeiten zu tanzen und tun sich deshalb schwer mit Treue im herkömmlichen Sinn.»

Wenn er sich allerdings die LGBTQIA+-Bewegung und ihre Errungenschaften anschaue, schöpfe er Hoffnung. «Wie schade, bin ich nicht 70 Jahre später auf die Welt gekommen.»

Dieser Artikel erschien am 15. Februar 2023 in der Republik. Annick Ramp ist freischaffende Fotografin in Zürich.

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