Der Mann im 5.09 Uhr-Tram

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Immer mal wieder kommt es vor, dass mein Arbeitstag um 5.30 Uhr beginnt. Warte ich dann an der Haltestelle auf das erste Tram, das mich um 5.09 Uhr abholt, steht da immer dieselbe Person, die ebenfalls ins Tram einsteigt. (2 Kommentare)

Immer mal wieder kommt es vor, dass mein Arbeitstag um 5.30 Uhr beginnt. Warte ich dann an der Haltestelle auf das erste Tram, das mich um 5.09 Uhr abholt, steht da immer dieselbe Person, die ebenfalls ins Tram einsteigt.

Vermutlich, weil es so unglaublich früh ist und ich diesen Mann wie einen Leidensgenossen empfinde, habe ich ihn immer gegrüsst. Danach aber sitzen wir getrennt voneinander und ergeben uns der Müdigkeit.

Immer wieder habe ich mich gefragt, wohin dieser Mann wohl fährt. Bis vor drei Wochen. Da haben wir nämlich das erste Mal miteinander geredet, kurz nach 5 im Tram Richtung Flughafen. Er erklärte mir, dass er am Flughafen als Koch arbeite. Zuständig für das Essen gewisser Airlines, konzipiert er die Menus und hilft auch in der Produktion mit.  Dann wollte er mehr über mich und meinen Job wissen.

Es war schön, mehr über diesen Menschen zu erfahren und endlich zu wissen, wieso er so früh  unterwegs ist. Schliesslich hatte ich mich in Gedanken schon lange mit diesen Fragen beschäftigt und mir allerlei Szenarien ausgemalt.

Trotzdem bedaure ich es, dass ich jetzt Gewissheit habe, wer hinter der Person steckt, die kurz nach 5 auf das erste Tram wartet. Die Freiheit, mir immer wieder neu ausmalen zu können, wohin der Weg meines neuen Bekannten führt, hatte auch etwas für sich. Es gab da so ein kleines Fenster in meinem Kopf, das sich alle paar Wochen öffnete. Ich mochte dieses Fenster. Es bot mir die Möglichkeit zum Phantasieren und Geschichtenschreiben, die ich nach Lust und Laune ausmalen konnte. Meine Gedanken kreisten dann nur darum.

Morgen habe ich wieder einen Frühdienst und werde spätestens um 5.09 Uhr an der Tramhaltestelle sein. Ich weiss jetzt, wieso der Mann auch da steht. Jetzt muss ich wohl über etwas anderes nachdenken.

Olivia Porträt

Olivia Eberhardt (geb. 1994) hat 2017 ihr Studium an der ZHAW abgeschlossen und arbeitet nun als Redaktorin beim Online-Stadtmagazin «Züri Today». Sie bezeichnet sich als «Beobachterin mit feinen Antennen und dem Wunsch, die Essenz dieser Beobachtungen mit einem humoristischen Ansatz niederzuschreiben».

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Das mit dem Kommunizieren ist eine wirklich knifflige Sache. Denn das Resultat daraus birgt so viele Risiken, die man sich im Vorhinein kaum ausmalen kann. Dieses Beispiel von Olivia zeigt das schön auf. Sie gab dem Drang nach, mehr über diesen Mann im Tram zu erfahren und sprach ihn an. Dass dadurch aber die Magie der Fantasie verschwindet, war wahrscheinlich nicht einkalkuliert. Und falls doch, dann war der Drang zu wissen, einfach grösser. Vielleicht leben wir alle besser, wenn wir uns Einsteins Worte im Hinterkopf behalten: «Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.»

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