«Der Tod kann auch ein freundliches Gesicht haben»

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19. November 2021 – Simon Gebs, reformierter Pfarrer in Zollikon, hat immer wieder mit Sterbenden und deren Angehörigen zu tun. Er schätzt diesen Teil seiner Arbeit als besonders wertvoll ein, weil er sinnvoll ist. Ein Gespräch, das zum Nachdenken anregt.

Pfarrer Simon Gebs
Pfarrer Simon Gebs (Foto: bl)

MIT SIMON GEBS SPRACH BARBARA LUKESCH

Der Schriftsteller Elias Canetti schrieb: «Der Tod ist ein Skandal.» Einverstanden?

Nein. So kategorisch sicher nicht. Der Tod kann tatsächlich ein Skandal sein, wenn ein 22 Monate altes Kind plötzlich stirbt oder eine 19-Jährige mit dem Velo unter einen Lastwagen kommt. Der Tod kann aber auch ein freundliches Gesicht haben, wenn ein Mensch nach einem langen, erfüllten Dasein so etwas wie Lebenssattheit empfindet, die keinerlei depressive Untertöne haben muss. Vergleichbar mit einem Besuch im Feinschmecker-Restaurant von Caminada, während dem man wunderbar und ausgiebig isst, aber irgendwann auch satt ist und genug hat. Die Unendlichkeit, denke ich manchmal, kann auch eine Strafe sein.

Welcher Satz würde dann Ihre Einschätzung am besten zum Ausdruck bringen? «Der Tod ist ….»

«Der Tod ist.» Punkt.

Sie sind Pfarrer und begleiten immer wieder Menschen, deren Sterben absehbar ist. Was wünschen sich die Menschen in dieser Zeit von Ihnen?

Die Einen wollen ihre Abdankung vorbereiten: Wer redet und was wird erzählt? Welche Musik wird gespielt? Welches Gebet gesprochen? Andere, vor allem Frauen, sind froh, wenn ich ihnen versichere, dass sich jemand um den zurückbleibenden Mann, den Witwer, kümmert und ihn in der Zeit der Trauer stützt. Dann gibt es Menschen, die noch irgendwelche Baustellen im Leben haben, ungeklärte Geschichten, die sie nicht mit ihren engsten Angehörigen besprechen mögen. Da bin ich immer wieder die Person, mit der sie so etwas Belastendes teilen können und dann zur Ruhe kommen.

Mit welcher Haltung begegnen Sie diesen Menschen?

Aus der Carearbeit als Notfallseelsorger bin ich vertraut mit einem ressourcenorientierten Vorgehen. Dabei schaue ich einen Menschen, auch wenn er sich in einer schwierigen Situation befindet, nicht zum Vornherein als arm und hilfsbedürftig an, sondern versuche gemeinsam mit ihm, zu seinen eigenen Ressourcen vorzustossen.

Fällt Ihnen dazu ein Beispiel ein?

Eine Frau kam in den Gesprächen mit mir wiederholt auf eine Reise nach Kreta zu reden, auf das Meer und – ganz explizit – auf ein grosses rotes Auto, mit dem sie eine wunderschöne Erinnerung verknüpfte. Sie wünsche sich, sagte sie, dass auch ihr Sterben zu einem solchen Moment werde, in dem alles stimme. Da habe ich sie bestärkt, sich dieses Bild zu bewahren. Es wurde dann tatsächlich so etwas wie ein innerer Schatz, der sie gewärmt hat.

Ich würde Sie in einem solchen Moment vielleicht fragen: «Herr Gebs, wie geht sterben?» Was würden Sie mir antworten?

Die Frage klingt so, als würden Sie einen Ratgeber suchen, dank dem Sie das Sterben souveräner handhaben können. Da müsste ich Sie enttäuschen. Der Tod lässt sich nicht managen: Es kommt, wie es kommt. Darüber hinaus würde ich Sie aber auch darin bestärken, dass Sie mit Sicherheit Ihren eigenen stimmigen Weg des Sterbens finden werden.

Man kann das Sterben also nicht trainieren?

Nein. Es gibt keine Routine, keine Übung. Der Tod ist der vollständige Kontrollverlust, und der Anspruch besteht darin, sich dieser Bewegung zu überlassen. Natürlich frage ich einen solchen Menschen, was er braucht. Oder woran er als Zaungast bei seinem eigenen Sterben und seiner Beerdigung merken würde, dass es für ihn gut und stimmig sei. Ratschläge vermeide ich, viel wichtiger ist es, in bestimmten Situationen auch miteinander schweigen zu können und dem Betroffenen die Möglichkeit zu geben, nachzudenken, in sich hineinzuhorchen oder bei Bedarf auch wieder das Gespräch aufzunehmen.

Haben Sie keine Angst vor dem Sterben?

Ich bin 56, gesund, zur Zeit habe ich keine Angst vor dem Sterben. Aber ich fände es überhaupt nicht beunruhigend, wenn ich nach einer happigen Krebsdiagnose Angst hätte. Das würde ja auch zum Ausdruck bringen, dass es wirklich um etwas geht, mein Leben nämlich.

Was würde Ihnen helfen in dieser Lage?

Die Erinnerung an Menschen, die ich als Pfarrer beim Sterben begleiten durfte und die mich beeindruckt haben durch die Art, wie sie mit ihrem nahenden Tod umgegangen sind. Indem sie beispielsweise die Sache beim Namen genannt und sich ihrem Sterben gestellt haben. Das soll überhaupt nicht heissen, dass es dann keine Tränen gibt. Im Gegenteil. Aber solche Männer und Frauen können oft auch sehr klar artikulieren, was sie sich noch von ihren Liebsten oder von mir wünschen. Das ist wichtig und für alle Beteiligten wertvoll.

Schildern Sie doch noch ein solches Beispiel!

Da fällt mir der 72-Jährige ein, der zu mir sagte, er sei zwar noch relativ jung und hätte gern noch weitergelebt, aber er sei so unglaublich dankbar für sein Leben, seine Familie und Partnerschaft und gehe jetzt den Weg, der offenbar zu ihm gehöre. Ich habe sofort gemerkt: Was dieser Mann sagt, ist authentisch und stimmig, weit entfernt von Beschönigungen oder billigem Trost. Wer mit solcher Dankbarkeit auf sein Leben zurückblicken kann, macht sich selber das grösste Geschenk.

In welchen Momenten kann ein Gebet Kraft spenden?

Da handle ich sehr intuitiv. Wenn ich das Gefühl habe, jetzt sei ein Gebet am Platz, sage ich vielleicht zu meinem Gegenüber: «Ich würde jetzt gern ein Gebet sprechen. Wie sieht es für Sie aus?» Wenn er oder sie einwilligt, versuche ich stark ressourcenorientiert zu beten. Nicht das «Vater unser» aufsagen, sondern ein Freestyle-Gebet, ganz auf die Person und ihre individuelle Geschichte ausgerichtet. From the bottom of he heart (aus der Tiefe des Herzens). Und alles möglichst in der Sprache und Bildwelt des anderen, das muss überhaupt nicht besonders biblisch tönen. Das ist für mich ein Akt der Zuwendung, aber auch der Hoffnung, dass der Tod nicht das letzte Wort hat.

Wieviel Trost können die Angehörigen spenden?

Sterben ist kein Sololauf. Auch im Sterben bleiben wir soziale Wesen. Und gerade wenn sich ein Sterbeprozess über Wochen hinzieht, brauchen Menschen die Präsenz, das Gespräch und die Berührungen ihrer nächsten Angehörigen wie Ehepartner, Töchter, Söhne, Geschwister. Selbst wenn Sterbende nicht mehr ansprechbar sind, sollte man dableiben und davon ausgehen, dass die Betroffenen nach wie vor viel spüren. Dann kann man mit wohlriechenden ätherischen Ölen oder Musik noch Tiefenschichten erreichen, an die man mit Worten nicht mehr gelangt. Wie wichtig enge Verwandte sein können, merkt man auch an den vielen Schilderungen vom Vater oder der Mutter, die erst dann loslassen können, wenn auch die Tochter aus Brasilien oder der Sohn aus den USA noch am Sterbebett erschienen ist und sich von ihnen verabschiedet hat.

Manchmal brauchen sicher auch die Angehörigen, die vor dem Verlust eines geliebten Menschen stehen, Trost und Unterstützung.

Absolut. Auch sie machen ja vielleicht das erstemal diese Erfahrung und müssen lernen, wie sich Sterben anfühlt. Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als meine Mutter im Sterben lag. Da bin ich abends jeweils von Zollikon nach Buchs ins Rheintal gefahren, habe an ihrem Bett gesessen und hatte das Gefühl, die Zeit stehe still und wir befänden uns unter einer grossen Glocke. Nachher bin ich wieder nach Hause zurückgekehrt und am nächsten Morgen ging das Leben in seinem normalen, hektischen Rhythmus weiter. Nur schon den Wechsel zwischen diesen zwei Sphären habe ich als anspruchsvoll empfunden.

Wenn der Ehemann oder die Ehefrau stirbt, stehen die Zurückgebliebenen oft vor einem Scherbenhaufen und müssen ihr Leben allein völlig neu ausrichten.

Da kann es passieren, dass ein solcher Mensch vorübergehend in einen psychischen Ausnahmezustand gerät. Ich habe mal einen Fall erlebt, da wurde ich als Notfallseelsorger zu einer jungen Frau, Mutter zweier kleiner Kinder, gerufen, die völlig überraschend ihren Mann verloren hatte. Sie sass allein am Tisch, noch niemand sonst war bei ihr, sie wirkte völlig ruhig, begrüsste mich, bot mir einen Kaffee an und fragte mich als Erstes: «Herr Gebs, mich nimmt wirklich wunder, wie das jetzt mit der Pensionskasse läuft.» Da denkt man natürlich im ersten Moment: «Uih! Hat die denn gar keine Gefühle?» Aber inzwischen weiss ich, dass sie eine völlig normale Reaktion zeigte, die in einer solchen Ausnahmesituation auftreten kann.

Wie ging es dann weiter?

Ich habe mich ganz im Sinne der Ressourcenorientiertheit auf ihre Frage eingelassen. Dabei ging es mir darum, dass sie sich trotz Schock wieder als handelnde Person erlebte. Sie konnte ihr Problem tatsächlich lösen und verabredete sich mit einem guten Freund ihres Mannes, der sie in den kommenden Tagen zu beraten versprach. Nachher setzten wir uns wieder an den Tisch, sie schaute mich an und sagte plötzlich: «Oh je, Herr Gebs, was denken Sie nur von mir!» Danach sind ihr die Tränen runtergelaufen.

Sie haben die Menschen erwähnt, die ihre eigene Abdankung organisieren, andere schreiben auch ihre eigene Todesanzeige. Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Das kann die 87-Jährige sein, die zwar gesund ist, aber findet, es werde langsam Zeit und sie wolle alles Nötige vorbereiten. Menschen, die mit solchen Wünschen an mich herantreten, mache ich Mut und sage ihnen, ich fände es stark, dass sie sich ihrem eigenen Tod stellen und ihn nicht einfach verdrängen. Sie sollten doch mal aufschreiben, was ihnen wichtig sei, vielleicht auch ihren Lebenslauf, ihre Musikvorlieben. Manchmal muss ich aber auch etwas liebevoll bremsen, weil dieses Vorgehen nicht kippen und zu einer Diktatur der Sterbenden werden darf. Dann fehlt es nämlich plötzlich an Luft und Platz für die Bedürfnisse der Hinterbliebenen. Bei einer Abdankung muss im besten Fall ein vielfarbiges Bild der Verstorbenen entstehen, an dessen Entstehung verschiedene Personen mitgewirkt haben.

Während der Lockdowns mussten viele Abdankungen beziehungsweise Gedenkfeiern in der Kirche verschoben werden. Was bedeutet es für die Angehörigen, wenn sie dieses Ritual nicht erleben können?

Es gibt ein jüdisches Sprichwort: «Probiere nicht jemanden zu trösten, der seinen Liebsten noch nicht beerdigt hat.» Mit anderen Worten: Für den Trauerprozess und die Rückkehr zu einer gewissen Normalität ist dieser Akt des Abschiednehmens ganz wichtig. Da wirkt auch die Kraft, die Ritualen innewohnt. Menschen, die diesen Akt nicht in einer bestimmten Zeitspanne vollziehen können, geraten regelrecht in Verzug mit ihrem Trauerprozess.

Welche Zeitspanne hat sich bewährt?

Wenn jemand Montag stirbt und die Familie die Bestattung schon am Donnerstag über die Bühne bringen will, stehe ich etwas auf der Bremse. Die meisten empfinden zwei Wochen Abstand als angemessen.

Wie nahe gehen Ihnen als Pfarrer Beerdigungen?

Das ist total unterschiedlich. Manchmal bin ich sehr traurig, ich bin ja keine Maschine, und fände es schlimm, ja, gefährlich, wenn ich in Routine verfallen würde. Andererseits geht es aber auch nicht, dass ein Pfarrer bei jeder zweiten Abdankung in Tränen ausbricht.

Wieviele Beerdigungen pro Woche verkraften Sie?

Zwei, höchstens drei. Vier sind sehr viele. Man muss allerdings wissen, dass die meisten Pfarrpersonen wohl sagen würden, dass die Gestaltung von Abdankungen etwas vom Dankbarsten in unserem Job ist, weil es wesentlich und sinnvoll ist. Man kann den Menschen in einem existentiellen Moment beistehen. Gleichzeitig lerne ich im Kontakt mit diesen Menschen ständig dazu. Ich werde mir selber der Endlichkeit bewusster und stosse wiederholt auf die Frage, ob all das, was ich täglich mache, wirklich bedeutsam ist. Das empfinde ich als grosse Bereicherung.

Wir führen dieses Interview kurz vor dem Totensonntag. Welche Bedeutung hat dieser Tag innerhalb der reformierten Kirche?

Der Ewigkeitssonntag, wie wir ihn nennen, hat zwei Funktionen: er soll den Menschen in seiner Endlichkeit in den Blick nehmen, gleichzeitig aber auch dem Tod das letzte Wort absprechen, indem wir auf die Ewigkeit blicken. Da bauen wir einen Horizont der Hoffnung auf. Gleichzeitig soll es auch ein Anlass sein, an dem die Menschen, die gerade einen Angehörigen verloren haben, nochmals ihrer Lieben gedenken. Ich lese die rund 120 Namen der im letzten Kirchenjahr in Zollikon Verstorbenen einen nach dem anderen vor. Das lässt niemanden unberührt.

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Herzlichen dank für dieses eindrückliche Interview. Einige dieser Aussagen habe ich auch schon in meinem Kopf, den Rest hoffe ich nicht zu vergessen.

Ja, unser irdisches Leben ist endlich aber was sagt Jesus: Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt; und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.“ Was für ein gewaltiges Angebot!
Doch? Springen wir lieber dem Angebot von Black Friday nach oder wagen wir den Sprung hin zum Glauben an Christmas, zum Sinn dieses weltumspannenden Ereignisses?

WIR FREUEN UNS ÜBER IHREN KOMMENTAR

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