Ein Zolliker Weltstar überrascht
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14. Dezember 2023 – Wer kennt nicht den Ohrwurm «Stägeli uf, Stägeli ab»? Aber kaum jemand weiss, dass der berühmte Zolliker Komponist Artur Beul homosexuell war. Adrian Michael beschreibt das Wirken des Maestro, mit dem er befreundet war. (1 Kommentar)
VON ADRIAN MICHAEL*
Von Artur Beul kannte ich lange nur den Namen und einige seiner bekanntesten Lieder wie «Nach em Räge schint Sunne», das «Sternli» oder die «Gotthardbrämen». Dies änderte sich, als ich Mitte der 90er-Jahre von Heidi Ritter, damals Präsidentin des Zolliker Frauenchors, erfuhr, dass Artur Beul ihr ein Lied für ihren Chor angeboten hatte. «Wänn de Schnee fallt im Dezämber» heisse es.
Aber Heidi fand, dass es sich besser für eine Schulklasse oder einen Kinderchor eigne. Sie schickte mir Text und Noten, und ich war schnell davon überzeugt. Am ersten Advent sangen wir das Lied am Weihnachtsgottesdienst in der Kirche – mit Artur Beul als Zuhörer. Damals traf ich ihn zum ersten Mal, es war der Beginn einer Bekanntschaft, die zu einer Freundschaft wurde und bis zu seinem Tod andauern sollte.
«Wänn de Schnee fallt…» ist ein wunderschönes, langes Lied und für Kinder recht anspruchsvoll zu singen; es ist anstrengend, den Spannungsbogen vier Minuten lang aufrecht zu halten.
Ich weiss nicht mehr, wie es dazu kam, aber ich habe aus den ersten zwei halben Noten des Refrains zwei Achtelnoten gemacht; die Kinder sangen die Wörter «Wänn de» schnell anstatt jedes einzelne zu betonen, wie Artur es geschrieben hatte.
Er freute sich zwar sehr darüber, dass wir das Lied am Gottesdienst gesungen hatten. Aber dann wurde es ernst: Er erklärte mir ausführlich, dass die beiden ersten Noten des Refrains unbedingt langsam gesungen werden sollten! Mit einer Hand schlug er den Takt und sang es mir mehrere Male vor: «Wänn de Schnee fallt im Dezämber…». Jedes Mal, wenn ich das Lied höre, sehe ich Artur vor mir, wie er mir vorsang, wie es zu tönen hatte.
Später kamen noch weitere seiner Lieder hinzu wie «Stägeli uf, Stägeli ab», «Übre Gotthard flüged Bräme» und natürlich «Am Himmel staht es Sternli» – Lieder, die bei unseren gelegentlichen Auftritten mit dem Kinderchor Oescher in Altersheimen grossen Anklang fanden.
Bei diesen Anlässen lebte er auf, charmant plaudernd genoss er die Aufmerksamkeit und die Verehrung, die ihm das Publikum entgegenbrachte. Es war berührend zu sehen, wie die alten Menschen strahlend die Lieder mitsangen, mit denen sie gross geworden waren. Vor allem das «Sternli» entlockte dem einen oder der anderen gar hin und wieder eine Träne.
Ein Museum der Erinnerungen
Ich habe Artur in seinem Häuschen an der Alfred-Ulrich-Strasse in Zollikon oft besucht. Seine Tür war selten verschlossen; man klingelte und trat ein. Das Haus war ein verwinkeltes Museum der Erinnerungen; hier war «Turi», wie er genannt wurde, umgeben von Andenken an Menschen, denen er in seinem langen Leben begegnet war: eine goldene Schallplatte, signierte Photographien von einst gefeierten Künstlern, Bilder von ihm und seiner Frau Lale Andersen, Lithographien von Jean Cocteau, handgeschriebene Noten seiner Erfolge. Jeden Tag wurde Beul auch an seinen Vater erinnert: Dessen Schädel stand auf dem Kaminsims. Beul hatte ihn zu sich genommen, als das Grab aufgehoben wurde.
Meistens sass Turi in seinem Sessel oder lag auf dem Sofa, schrieb an einem Gedicht oder schaute fern. «Deal or no Deal» mit Roman Kilchsperger mochte er besonders; wenn das lief, besuchte man den Meister besser nicht. Aber sonst freute er sich über jeden Besuch. Gerne erzählte er von Menschen, denen er im Laufe seines Lebens begegnet war.
Er konnte kaum verstehen, dass Namen einst berühmter Menschen – Sänger, Filmschauspielerinnen, Komponisten – in Vergessenheit geraten waren. Mit den neuen Namen, die an deren Stelle getreten waren, tat er sich schwer; die moderne Musik war nicht sein Ding.
Da er als über Achtzigjähriger nicht mehr so gelenkig war wie einst, bat er hie und da auch um eine kleine Handreichung: den Gaszähler im Keller ablesen, eine Schachtel irgendwo hervorkramen oder eine Glühbirne wechseln.
Unverwechselbarer «Beul-Sound»
Gerne setzte er sich ans Klavier, immer noch dasselbe, an dem er seine grossen Erfolge komponiert hatte. Auch wenn er die Tasten nicht mehr so genau traf, brachten seine Hände immer noch den unverwechselbaren weichen «Beul-Sound» hervor.
Er nützte die ganze Breite der Tastatur aus, schwang sich durch die Tonarten und brauchte die Noten nur als Orientierungshilfe. Wenn er spielte, hüpfte seine linke Hand immer wieder von den Tasten zu den Noten hoch, um mir zu zeigen, wo er gerade spielte. Ab und zu wiederholte er eine Stelle. «Hör mal, das finde ich besonders schön», sagte er dann, bevor er weiterspielte und den Text leise dazu sprach. Dann legte er die Noten zurück auf den Stapel und breitete sorgfältig die Decke mit den gestickten Katzen und Notenlinien über die Tasten.
Von Arturs Liedern gibt es Hunderte von Aufnahmen, aber lange Zeit keine einzige, auf der er als Pianist zu hören war. Es brauchte etwas Überzeugungsarbeit, aber schliesslich willigte er ein: Mit 82 setzte er sich in meinem Schulzimmer ans Klavier, ich stellte ein Mikrofon auf und Artur spielte neben seinem Medley einige seiner grossen Erfolge von damals.
Die Aufnahmen wurden auf einer CD veröffentlicht. Sie sind nicht perfekt, aber trotzdem eine wertvolle Erinnerung an einen, der Schweizer Musikgeschichte geschrieben hat.
Bis er 90 war, spielte er fast täglich, später mochten seine Finger nicht mehr. Das Klavier blieb weiterhin geöffnet, auch wenn es schon längst niemand mehr anrührte.
Enorme musikalische Vielfältigkeit
Obwohl von Artur Beul meist nur die immer gleichen vier, fünf Lieder zu hören sind, war seine Vielseitigkeit enorm; er konnte alles in ein Lied einpacken. Neben Volkstümlichem für die Geschwister Schmid und das Gesangsduo Pfyl/Mumenthaler schrieb er Seemannslieder für seine Gattin Lale Andersen und Hans Albers sowie deutsche Chansons für Evelyn Künnecke und Ilse Werner.
Eine Zeitlang waren Cowboysongs angesagt: Das «Texas-Duo» war äusserst erfolgreich mit Liedern wie «Am Rio Grande liegt El Paso» oder «Marie, die Rose der Prärie». «Die blauen Berge von Gina Valley» ist wohl das bekannteste aus dieser Serie, für die sich Beul später etwas schämte und stets verlegen abwinkte, wenn davon die Rede war. Offenbar hielt er sie verglichen mit seinen Mundartliedern für minderwertig. Der Jodlerkönig Peter Hinnen sang den Titel jedoch mit grossem Erfolg.
Auch vielen Dörfern und Regionen hat er ein Lied gewidmet: Rapperswil, Schwyz, Lachen, Weggis, Lugano, Zollikon («Mys Dörfli Zollike»), dem Emmental oder dem Thunersee. In Glarus gilt sein «Glarner Zigerlied» fast als lokale Landeshymne. Vom «Zigerlied» hat sich eine italienische Fassung eines Tessiner Kinderchors aus Lugano-Viganello erhalten, die mir besonders ans Herz gewachsen ist. Ich fand sie auf einem der unzähligen Kassettchen, die ungeordnet in mehreren Schachteln auf Arturs Kaminsims lagen.
Auch Verkehrsmittel hat er besungen: die Schweizerische Südostbahn SOB, das Züritram, den ersten Trolleybus, die Spanisch-Brötlibahn. Zahlreiche Figuren aus der Kinderliteratur liess er in seinen Liedern aufleben: Max und Moritz, Rotkäppchen, Schneewittchen, Bambi und Perry, das Eichhörnchen. Auch «normale» Tiere kamen zu Ehren: Ziegen, ein Papagei, Katzen oder Schwalben. Aber so sehr sich diese Lieder im Stil unterscheiden – schwer zu glauben, dass sie vom selben Komponisten stammen –, allen ist gemeinsam, dass man sie beim ersten Anhören schon fast mitsingen kann und meint, die Melodie schon lange zu kennen.
Den Überblick über sein Werk hatte Beul schon bald verloren. Es waren zu viele Lieder, und auf die Idee, ein systematisches Verzeichnis zu führen, kam er nie, das war nicht sein Ding. Manchmal fragte er: «Ist das wirklich von mir…?» und glaubte es erst, wenn man ihm den Titel auf der Liste der Urheberrechts-Organisation SUISA zeigte, die etliche Meter misst.
Verborgene Homosexualität
Dass Artur homosexuell war, wusste ich anfänglich nicht. Es war nicht so, dass er mir dies eines Tages erzählte, aber mit der Zeit setzten sich zahlreiche kleine Puzzleteilchen zu einem Bild zusammen. In den 1940er Jahren, als er intensiv mit dem Trio Schmid zusammenarbeitete, war er zwar mit der Sängerin Klärli Schmid verlobt. Die Verlobung wurde jedoch bald wieder aufgehoben – offenbar merkten beide, dass trotz aller Freundschaft doch etwas fehlte.
1949 heiratete er die deutsche Sängerin Lale Andersen, die als Interpretin des Liedes «Lili Marleen» Weltruhm erlangt hatte. Von ihr sprach er oft, immer mit grossem Respekt. Auch wenn es keine Liebesbeziehung im klassischen Sinn war, verband die beiden mehr als 20 Jahre lang eine tiefe Freundschaft, die bis zu ihrem Tod 1972 währte. Auch sein Lieblingslied schrieb Beul für Lale: «In unsrem Garten blühen Rosen» entstand aus einem Brief, den er ihr schrieb und später zu einem Lied verarbeitete.
Um 1980 lernte er seine zweite Frau Pat Gysin kennen, die bei der Zürcher Rediffusion als Gestalterin und Ansagerin arbeitete. Sie war es auch, die ihm damals half, eine Lebenskrise zu überwinden; nach einer Gallensteinoperation war Beul stark morphiumabhängig geworden. Als Pat 2003 an Demenz erkrankte und in Küsnacht in ein Pflegeheim musste, besuchte er sie täglich. Pat Beul starb am 20. Dezember 2008 im Alter von 88 Jahren.
Von Freundschaften oder Beziehungen zu Männern sprach Turi nie, ich habe ihn auch nie danach gefragt. Da er tief religiös war – er fuhr oft nach Einsiedeln ins Kloster, und auf den Papst liess er gar nichts kommen – fragte ich ihn aber eines Tages, wie er sein früheres Privatleben mit seinem katholischen Glauben vereinbaren konnte. Turi schmunzelte und sagte: «Der liebe Gott kennt mich und weiss schon, wie ich das meine.»
«Die Leidenschaft beschäftigt mich zu sehr»
Dass ihn der Gegensatz zwischen Religion und seiner Lebensweise doch intensiv beschäftigt, zeigt sich hin und wieder in Einträgen in seinem Tagebuch. Im Februar 1964 schreibt er in Paris zum Beispiel: «Ich bete mit den Lippen und versuche es auch mit dem Herzen! Doch wie schwer mir das fällt! Ich versuche es noch und noch! Und ich will an ein Ziel gelangen! Ich will nicht auf der Strecke hängen bleiben, nie und nimmer! Gott, wo bist du nur, dass du mein Rufen nicht vernimmst?
Wie kann ich deine Stimme nicht hören, derweil ich all den Tingeltangel der Music Halls vernehme? Ich begeistere mich für Johnny Holliday und andere Bühnengrössen, und bin still und gelangweilt, wenn ich mich auf dich konzentrieren will – wie kommt das bloss? Die irdische Liebe, die Leidenschaft, beschäftigt mich noch zu sehr, grosser Gott! Warum hast du sie denn so mächtig in mich hineingelegt? Warum unterliege ich ihr immer wieder? Warum ist mein Wille und meine Einsicht so klein?»
Ab Januar 2008 ging es Artur Beul körperlich zunehmend schlechter. Er war immer mehr auf einen Rollstuhl angewiesen, und im Sommer darauf vermochten seine Hände auch seine musikalischen Ideen nicht mehr aufs Papier zu bringen. Er zog ebenfalls ins Pflegeheim Bethesda, wo Pat lebte. Ein paar Tage vor seinem Umzug überreichte er mir seine Tagebücher, drei eng beschriebene Hefte aus der Zeit um 1960. Was ich damit tun sollte – oder nicht tun sollte – liess er offen, er sagte nur so etwas wie: «Bei dir sind sie gut aufgehoben.»
Eindrückliches Begräbnis
Artur Beul starb am 9. Januar 2010, einen Monat nach seinem 94. Geburtstag. Auf seinen Wunsch hin wurde er in seinem Heimatort Lachen beerdigt, an einem grauen kalten Wintertag. Aber eine halbe Stunde vor Beginn der Abdankung riss der Himmel auf und ein blauer Fleck zeigte sich, wie wenn Artur zuschauen wollte, ob alles nach seinen Wünschen laufe.
Eine kleine Schar von langjährigen Freunden und Bekannten Arturs versammelte sich auf dem Friedhof, um ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten, unter ihnen die Interpreten seiner Lieder Willi Schmid und Lys Assia. Für etwas Leichtigkeit sorgten die «Sam Singers», die gleich mehrere von Arturs Hits vortrugen, darunter ein swingendes «Stägeli uf, Stägeli ab».
Singt mein Sternli-Lied am Schluss, wenn ich zu den Sternen geh.
Laut, dass ich es hören muss, ob den Wolken in der Höh!
Dies hatte sich Artur in einem seiner zahlreichen Gedichte gewünscht. Der Kinderchor Altendorf erfüllte ihm diesen Wunsch: Hell ertönten die jungen Stimmen von der Empore herab, und manch einem Zuhörer mag darob eine Träne über die Wange gerollt sein.
Still standen nachher die Freunde und der Pfarrer am Grab, ihre Blicke auf den mit Blumen geschmückten Sarg gerichtet, als etwas Überraschendes geschah: Von fern ertönten Trompetenklänge. «Am Himmel staht es Sternli». Der Musiker war nicht zu sehen, nur die Töne schwebten zwischen den Bäumen heran und senkten sich weich über Turis letzte Ruhestätte. Dann war das Lied zu Ende, und der kleine Trauerzug verliess den Friedhof. Lange war nicht bekannt, wer der unbekannte Trompeter war, der Artur auf so eindrückliche Weise Adieu gesagt hatte. Später zeigte sich, dass ein Verehrer von Artur ihm einen letzten spontanen Gruss geschickt hatte.
Turis Tagebücher zeigte ich eines Tages meinem Bruder Markus. Ich nahm an, dass sie ihn interessieren würden. Das taten sie, wie sein Beitrag zeigt, der morgen Freitag in den «ZollikerNews» erscheinen wird.
* Adrian Michael hat 37 Jahre lang an der Zolliker Primarschule unterrichtet. Er ist seit 2017 pensioniert. Zu seinen Steckenpferden gehört unter anderem die Zolliker Lokalgeschichte.
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Herzlichen Dank an Adrian Michael für diesen interessanten und berührenden Artikel samt Musikeinlagen. Ich freu mich auf den morgigen Beitrag von Markus Michael.