Einst prüde, jetzt sexuell erwacht

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16. Oktober 2023 – Dank der aktuellen Filmkomödie «Barbie» von Regisseurin Greta Gerwig wissen jetzt alle: Barbie hat Sex und könnte Mutter werden. Vor 30 Jahren sah das Mattel, die Herstellerfirma, noch diametral anders, wie ein Artikel aus jener Zeit zeigt.

Die neue Barbie aus dem Film (Fotos: pd)

Mit Einnahmen von 1,4 Milliarden Dollar ist «Barbie» der weltweit erfolgreichste Film des Jahres. In der Schweiz sind bislang mehr als 700’000 BesucherInnen registriert worden, viele von ihnen gingen pink gekleidet ins Kino. Offenbar ist Barbie längst mehr als ein Kinderspielzeug.

Ein Artikel unter dem Titel «In hohen Pumps auf den Mond – Warum Barbie nichts im Sex-Buch von Günter Amendt zu suchen hat» von Barbara Lukesch, erschienen am 26. August 1993 in der «Weltwoche», beschreibt die Anfänge dieses Evolutionsprozesses. Inzwischen ist Barbie 64, was man ihr allerdings nicht ansieht.

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In hohen Pumps auf den Mond

Als Günter Amendt 1979 «Das Sex Buch», seine Aufklärungsschrift für Jugendliche, veröffentlichte, gab es Ärger. Unterstützt von einer «Bild am Sonntag»-Kampagne, ging die bayrische Justiz polizeilich gegen das Buch vor. Buchhandlungen wurden durchsucht, die vorhandenen Exemplare beschlagnahmt. Doch der Versuch, das «Sex Buch», da pornographisch, aus dem Verkehr zu ziehen, schlug fehl. Die Gerichte sahen «keinen Handlungsbedarf».

1993, kurz vor Erscheinen der aktualisierten und erweiterten Neufassung, des Aufklärungswerks, sind noch keine Klagen aus Bayern eingetroffen. Diesmal ist Amendt, der deutsche Sexualwissenschaftler mit bewegter 68er Vergangenheit, jemand anderem auf den Schlips getreten.

Cover von «Das Sex Buch»

Doch der Reihe nach. Während der Recherchen für das neue «Sex Buch» stiess Amendt auf eine interessante Informantin: Jelina, 11. Das Mädchen erzählte ihm unter anderem von Barbie und Ken, ja, sie führte ihn in eine Kinderwelt, die dem 53Jährigen bisher verschlossen war. Amendt: «Ich kapierte sofort, welch immense Bedeutung diese Puppen für die Sozialisation kleiner Mädchen haben.»

Barbie und Ken, von denen allein 2,5 Millionen Ausgaben in Schweizer Kinderzimmern lagern, gehören, so befand der Autor, ins «Sex Buch». Sowohl mit humoristischer, aber auch mit aufklärerischer Absicht liess er Fotos von Barbie und Ken herstellen, auf denen sie zum Einen mit Kondomen, zum anderen in verschiedenen sexuellen Stellungen abgebildet sind.

Als das TV-Nachrichtenmagazin «10 vor 10» einen Beitrag ausstrahlte, in dem Amendt den Kondomgebrauch anhand der Puppen demonstrierte, reagierte Herstellerin Mattel prompt. Mit dem Hinweis auf «urheberrechtlichen und wettbewerbsrechtlichen Schutz» untersagte sie die Publikation des gesamten Bildmaterials im «Sex Buch». Amendt fügte sich und stellte die Kondom- und Sexszenen mit Holzpuppen nach. Als er diese in Anlehnung an ihre berühmten Vorbilder immerhin Gaby und Klem nennen wollte, erhob sein Anwalt wiederum Einspruch: Achtung, das könne erneut Ärger geben.

«Kinderspielzeug für Fünf- bis Zehnjährige»

Fragt man bei Mattel nach dem Grund der Entscheidung, wird Geschäftsführer Urs Wyder deutlich: «Wir lassen uns unsere Figuren nicht in obszönen Darstellungen verhunzen.» Amendt zeige extreme Sexualvarianten; er setze Barbie auf Kens Kopf oder demonstriere, wie sie ihm einen blase: «Das geht einfach zu weit, dazu sind unsere Puppen nicht da.» Schliesslich seien es Kinderspielzeuge für Fünf- bis Zehnjährige: «Deshalb sind Barbie und Ken nicht mit primären Geschlechtsmerkmalen ausgerüstet und eignen sich daher auch kaum zur sexuellen Aufklärung.»

Nun ist es allerdings so, dass Barbie und Ken bei genauerer Betrachtung weit entfernt von dieser asexuellen Präsentation sind. Barbie hat einen grossen, wenn auch seltsam missgestalteten Busen; ihre Beine sind schlank und ultralang; sie hat die Wespentaille von Mae West und die ausladenden Hüften von Marilyn Monroe, sie ist geschminkt wie für den Mitternachtsball, und ihre Graderobe setzt sich vorzugsweise aus rückenfreien, nabelfreien, schulterfreien, tiefdekolletierten Kleidern, aus Minijupes beziehungsweise hautengen Leggings zusammen. Nicht zu vergessen ihre neue Reizwäsche, in der weder heisse Höschen noch der spitzendurchbrochene Body fehlen.

Barbie ist sowohl Kind wie auch Frau; mit ihrem naiven Gesichtchen und ihrem hochsexualisierten Körper ist sie sowohl Lolita als auch blonde, US-amerikanisch geprägte Sexbombe.

«Sexuell nicht positioniert»

Und das ganze soll ein Kinderspielzeug sein? Kein Wunder, wettert Mattel, wenn jemand die 29 cm grosse Hartgummipuppe für den Zweck einsetzt, für den sie, bewusst oder unbewusst, auch geschaffen wurde. Amendt hat Mattels bestgehütetes Geheimnis enttarnt, und er hat zudem im Bild festgehalten, was Mädchen seit jeher auch mit Barbie und Ken machen: Sex spielen nämlich.

So klingt es auch seltsam, wenn Geschäftsführer Wyder mit dem Fehlen ihres Genitals Barbies Sexlosigkeit, das heisst ihr sexuelles Desinteresse, belegen will. Was, wenn nicht Ken verführen, will Barbie denn, wenn sie ihre femininen Dessous anzieht, die – laut «Barbie-Journal» – «fast zu schade zum Verstecken sind»? Solcherlei Botschaft diskutiert auch Marina Scacchi, die Product-Managerin von Mattel, nicht weg, wenn sie Barbie und Ken, die ca. 18jährigen Teenager, als «sexuell nicht positioniertes Paar» bezeichnet, «die einfach allerlei miteinander unternehmen».

Andererseits ist Barbies genitalloser Unterleib auch bestens dazu geeignet, das Vorurteil von der weiblichen Minderwertigkeit zu zementieren. Wie gehabt: Mädchen hat nichts, Mädchen ist nichts. Im Gegensatz dazu trägt Ken eine eingeschweisste Unterhose und demonstriert damit unmissverständlich, dass er etwas hat, was es wert ist, verborgen zu werden.

So kommt denn auch Elisabeth Camenzind, Psychotherapeutin für Mädchen und Frauen, zum Schluss: «Barbie ist ein Steuerungsinstrument, das dazu dient, die patriarchale Weiblichkeitsideologie zu verfestigen». Krasser Ausdruck davon sind ihre Füsse, Krüppelfüsse, die an die dank langjähriger Bandage verunstalteten Füsse der Chinesinnen erinnern und auf denen die Puppe schlicht nicht stehen kann, es sei denn sie trage hochhackige Pumps. Auf dass Barbie mit wackligem Gang durch die Welt stolpere, am besten gestützt von Ken, ihrem athletischen All American Boy, der über grossartige breite Füsse verfügt, auf denen es sich tatsächlich leben lässt.

«Vorreiterin der Emanzipation»

Barbie kann also nicht einmal stehen. Und trotzdem behauptet Product-Managerin Scacchi, sie sei die «Vorreiterin der Emanzipation», habe es doch bereits sehr früh eine Barbie-Astronautin, -Chirurgin und -Flugzeugpilotin gegeben. «Kurzum, Barbie zeigte kleinen Mädchen im Lauf der Jahre neue Traumberufe».

Dummerweise kapiert jedes Kind, dass es absoluter Nonsens ist, wenn ausgerechnet Barbie mit ihrem unsicheren Gang beziehungsweise den hochhackigen Schuhen auf den Mond beziehungsweise während Stunden an den Operationstisch soll – stehenderweise. Nein, das hat mit Emanzipation wenig zu tun. Auf diese Art werden ernstzunehmende weibliche Berufswünsche und Vorstellungen ad absurdum geführt und lächerlich gemacht.

Und sowieso, berufliche Pläne soll sich Barbie ’93 abschminken. Während Ken mit «Karrieremoden» ausgestattet wird, hat Mattel für seine Gespielin anderes auserkoren. Barbie bekomme eine Spüle mit Frühstücksbar, eine Waschmaschine mit Trockner, ein Dinnerset, ein Kochcenter, ein Telefontischchen und, wenn sie besonders lieb ist, sogar die «kleine Traumküche». Sie darf (allein?) ins «Sternenzauber-Bett», mit Kapitän Ken aufs «Traumschiff» oder als «romantische Braut» den Hafen der Ehe anlaufen.

Barbie ’93 hat keinen Beruf mehr; sie ist nur noch an Heim, Freizeit und Kleidern interessiert. Ist sie etwa ein Opfer der weltweiten Arbeitslosigkeit geworden? Schliesslich lebt die Puppe, gemäss ihrer Hersteller, seit jeher zuverlässig die wechselnden gesellschaftlichen Trends. Oder wurde sie vom antifeministischen Rückschlag, dem «Backlash», zurück in ihr Traumhaus geworfen?

«Ein Objekt zum Herzeigen»

Barbie ist die Verkörperung der Konsumgesellschaft; Barbie fordert zum Konsum auf. Psychotherapeutin Camenzind: «Barbie ist ein Objekt zum Herzeigen; sie weckt eine spezielle Konkurrenzform unter Mädchen: Wer hat mehr und schönere Kleider?»

Die bald 35jährige Puppe war von jeher als Identifikationsfigur konzipiert, mit deren Hilfe die kleinen Mädchen «in Rollen der Erwachsenenwelt – so wie sie sie sich vorstellen – schlüpfen sollen» (Mattel-Dokumentation). «Heute», so heisst es weiter, «reflektiert Barbie mit ihrem aufwendigen Lebensstil und ihren aufregenden Karrieren die Träume, Hoffnungen und Zukunftserwartungen einer ganzen Generation von kleinen Mädchen.»

Ob das nun stimmt oder nicht, bis zum Jahr 1991 ist es Mattel immerhin gelungen, nahezu 700 Millionen Barbies und Kens weltweit unter die Mädchen zu bringen. Mehr als 100 Millionen Meter Stoff wurden für mehr als 900 Millionen Kleidungsstücke verbraucht.

Barbie im Barbie-Land
Barbie im Barbie-Land

Mädchenspielzeug Nummer 1

Auch wenn alle zwei Sekunden eine Barbie verkauft wird, das Geschäft also bestens läuft, heckt die Firma Mattel immer wieder neue Tricks aus, um die Käuferinnenbindung zu festigen. Um die als «Vertraute und beste Freundin» titulierte Puppe noch tiefer im Leben von Siebenjährigen zu verankern, hat Mattel einen Barbie-Fanklub gegründet. Für einen Jahresbeitrag von 15 Franken erhält das Kind ein Willkommens- und ein Geburtstagsgeschenk und mehrmals pro Jahr persönlich adressierte Post, die allerdings nicht anders daherkommt als jede x-beliebige Werbewurfsendung. Doch die Kids haben angebissen, allein 22’000 in der Schweiz, und schreiben einer dünnen, staksigen Hartgummifigur rund 100 Briefe pro Monat. Viele berichten darin von ihren kleinen und grösseren Sorgen.

«Was soll ich anziehen?»

Als neuesten Hit präsentiert Mattel die sprechende Barbie, die in vierfacher Ausführung zu haben ist und mit der sich ihre Besitzerin fortan der Illusion hingeben soll, Barbie sei real, eine Freundin, mit der man das Wichtigste von Frau zu Frau bereden könne. Als da ist: «Was oll ich anziehen?», «Tolle Frisur», «Du bist in». Der Appell an die Freundschaft der beiden darf bei dieser Gelegenheit nicht fehlen: «Ich bin für dich da», «Hast du mich lieb?», «Wir sind ein Superteam».

Kosmetik, Kleider, Glanz und Gloria – ob das alles ist, was kleine Mädchen wollen? «Nein», sagt Elisabeth Camenzind, «Barbie verfälscht und verzerrt die tiefen Bedürfnisse der Mädchen nach Selbstsein und Selbstfindung. Sie vermittelt ihnen eine Scheinidentität.»

Und trotzdem ist Barbie das weltweit meistverkaufte Mädchenspielzeug. Angesichts ihres 35. Geburtstags, der nächstes Jahr ansteht, kündigt Product-Managerin Scacchi bereits jetzt eine Grossoffensive des Konzerns an: Allein in Deutschland sind hundert Künstler am Werk, um das Jubiläum prächtig in Szene zu setzen. Nicht verschont werden dann wohl auch die 240’000 Mädchen, die Mattel zu ihrer Schweizer Zielgruppe auserkoren hat.

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