Ich singe, also bin ich

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Seit meiner Pensionierung an der Musikschule Zollikon erteile ich keinen Querflötenunterricht mehr. Meine letzten Zolliker Schülerinnen waren mir sehr ans Herz gewachsen, und ich fand es schwierig, nochmals eine neue Klasse mit privaten Schülern aufzubauen. (1 Kommentar)

Seit meiner Pensionierung an der Musikschule Zollikon erteile ich keinen Querflötenunterricht mehr. Meine letzten Zolliker Schülerinnen waren mir sehr ans Herz gewachsen, und ich fand es schwierig, nochmals eine neue Klasse mit privaten Schülern aufzubauen.

Die Singstunden mit verschiedenen Gruppen in Zollikon und Küsnacht führe ich weiter, denn Singen ist ein Teil von mir geblieben.  Als ich klein war, sangen wir am Wochenende abends im Familienkreis und unterwegs im Auto, wenn es in die Berge ging.  Die Mutter sang mit uns vor dem Einschlafen, nachdem sie uns vorgelesen hatte. Wenn ich sang, war ich ganz bei mir: Ich war glücklich.

Später wurde es in der Schule zunehmend unpopulärer, den Tag mit einem Lied zu begrüssen. Im Laufe der Jahrzehnte hatten immer weniger Lehrer den Mut, ihren Primarschülern die Freude am Singen zu vermitteln. Die Texte waren nicht mehr zeitgemäss, und die Lehrmittelverlage versuchten sich in neuen, multikulturellen Liedern. Das alte Liedgut geriet in Vergessenheit.

Vor zwanzig Jahren wurde ich dann vom Wohn- und Pflegezentrum Zollikon angefragt, ob ich auch mit Senioren singen würde. Gleichzeitig kam eine ähnliche Anfrage von dem Zolliker Verein Senioren für Senioren und ich durfte unverhofft neben dem Musikunterricht in der Schule zwei eigene Projekte verwirklichen. Endlich durfte ich wieder die Lieder singen, die ich als Kind im Familienkreis und in der Schule gesungen hatte und deren Texte ich in Sachen Sprachrhythmus und Eloquenz immer noch um vieles besser fand als die meisten neuen.

Wenn ich die aktuelle Diskussion zu Wokeness, Political- und Gender-Correctness und veganer Ernährung verfolge, frage ich mich allerdings, wieviele Lieder in den nächsten Jahren aus unserem Repertoire verschwinden werden.

Einverstanden: Von vielen Liedern mussten wir uns schon vor fünfzig Jahren verabschieden. Der Aufstand in Kuba mit dem N-Wort ist schon lange gestrichen aus dem Liederbuch für die Pfadfinder. Auch die Sache mit dem Tod in Flandern, die in dem Lied «Der Tod reit’ auf einem kohlschwaharzehen Rappen» thematisiert wurde, war nicht kindgerecht.

Wenn ich mit den Senioren «Guete Sunntig mitenand» singe, taucht die Zeile auf: «Frau, wo isch mis Sunntigsgwand?» Ein rassiges Lied, das wir gerne singen – aber wer hat heute noch ein Sunntigsgwand? Und wer hat noch dazu eine Frau, die es ihm parat macht? Im Lied «Es wott es Fraueli zMärit ga» wird häusliche Gewalt thematisiert: «D Frau wott mir de Grind verschlaa». Das geht ja heute gar nicht mehr.

Und was ist mit all den Gletschern, die rot in der Sonne glänzen? Dem Firn, der sich in unserem Schweizer Psalm rötet? All dem Vieh, das sich auf den Alpweiden tummelt und abends heimwärs wendet? Den Glocken, die heimatlich ertönen?

Diese Lieder müssen verschwinden! Denn erstens wird es bald keine Gletscher mehr geben, das Vieh wird aus klimabedingten Gründen abgeschafft und deshalb auch keine Glocken mehr tragen. Werden wir dann von Tofu und von Hafermilch singen? Wird es ein Lied über die Kichererbsen geben, die dannzumal auf unseren Alpweiden wachsen?

Leben ist Veränderung. In den letzten zehn Jahren haben wir unsere Werte auf den Kopf gestellt. Mir ist das zu schnell gegangen.

Wenn ich jetzt singe, frage ich mich: Was darf ich noch singen? Worüber darf ich singen? Dann verschlägt es mir fast den Schnauf. Wenn ich nicht mehr singen darf, was ich will, frage ich mich: Wer bin ich dann noch?

Betti Hildebrandt

Betti Hildebrandt war 40 Jahre lang Lehrerin an der Musikschule Zollikon. Sie ist ins Zürcher Oberland ausgewandert und pflegt seitdem ihr Heimweh.  

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Sehr schön. Nicht zu vergessen Mani Matter, der einen Inuit Cembalo spielen lassen müsste (selbstverständlich mit einer Triggerwarnung vorneweg), oder die Sinti und Roma, die das Leben im grünen Wald lustig finden. Aber «Fröhliche Jahres-Endfeier überall» wäre schon arg gewohnheitsbedürftig.

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