Take a walk on the wild side – im Oberland

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Thomas Widmer: «Was wären wir ohne Zürcher Oberland? Es verleiht unserem Kanton eine gewisse Dramatik – das Wandern wird zum Abenteuer, Adlerfeeling kommt auf angesichts der Abgründe und Fluhen. Im Oberland unterwegs sein: immer gut!»

Gewalt in der Ehe kommt, man weiss es ja, seit jeher in allen gesellschaftlichen Milieus vor. Graf Heinrich ist krankhaft eifersüchtig, stellt seiner Gattin Idda nach und stösst sie eines Tages in einem Wutanfall über die Mauer seiner Burg in den Abgrund. Doch o Wunder! Idda, grundlos des Ehebruchs bezichtigt, nimmt dank der Fügung Gottes keinen Schaden. Zu ihrem jähzornigen Gemahl zurückkehren will sie aber auf keinen Fall. Fortan lebt die Adelsfrau als Einsiedlerin im Wald. 

So soll es geschehen sein im 12. Jahrhundert. Als wir eines Frühlingstages zur Besteigung des Hörnlis ansetzen, stossen wir ziemlich als erstes auf Idda. Vor dem Kloster Fischingen im hintersten Hinterthurgau sind wir aus dem Bus gestiegen und schauen nun in die riesige, exzessiv barocke Kirche. Iddas Sarkophag zieht uns an, ihre Klause soll sich ganz in der Nähe befunden haben. In der Seitenkapelle sitzen vor dem Heiligtum drei Leute in stiller Andacht und schauen böse auf uns Wanderer, die ohne spirituellen Zweck herumschlurfen und Fotos machen. Wir stören.

Iddas Heiligtum im Kloster Fischingen (Fotos: Thomas Widmer)
Iddas Heiligtum im Kloster Fischingen (Fotos: Thomas Widmer)

Also, los. Vor dem Kloster nehmen wir den hübsch altmodischen Wegweiser zur Kenntnis, der uns informiert, dass wir ein Stück Jakobsweg begehen werden, genauer gesagt ein Stück Schwabenweg. So heisst der Jakobsweg-Abschnitt von Konstanz nach Einsiedeln.

Schwabenweg-Wegweiser vor dem Kloster
Schwabenweg-Wegweiser vor dem Kloster

Wir überqueren die Murg, die im Hügelland oberhalb entspringt und bei Frauenfeld in der Thur endet. Und sind froh darum, dass der Beginn leicht ist. Hinauf ins nahe Minidorf Au – wieder eine Kirche – sind nur wenige Höhenmeter zu machen.

Dann aber! Gleich nach dem Gehöft von Vorder-Anderwil kommt im Wald die erste Steilstufe, wir sind froh, ist eine Treppe mit Geländer in den Hang gefügt. Jetzt wird ein erstes Mal geschwitzt, gekeucht, gehechelt. 

Steilhang vor Allenwinden
Steilhang vor Allenwinden

Bald haben wir den Steiss hinter uns. Auf Allenwinden öffnet sich das Gelände, der Gasthof Kreutz sticht uns ins Auge. Ich bin froh, schon bei der Planung gelesen zu haben, dass er längst eingegangen ist, dem nostalgischen Schild zum Trotz. So bin ich jetzt nicht enttäuscht, dass wir an diesem Ort nicht käfelen können. Erfreulich ist ein erstes Mal die Fernsicht: Der Säntisriegel zeigt sich in der Ferne. Direkt vor uns haben wir das Hörnli, unverkennbar dank der riesigen Antenne, die aus dem Wald ragt.

Der Säntis von Allenwinden gesehen
Der Säntis von Allenwinden gesehen

Wieder geht es kräftig aufwärts. Auf 922 Metern erreichen wir den Wanderverzweiger Dreiländerstein. Ah ja, da ist ja der namensgebende Stein! Ein in den Boden eingelassener Quader bezeugt, dass an diesem Ort drei Kantone zusammenkommen: Thurgau, St. Gallen und Zürich.

Der Dreiländerstein
Der Dreiländerstein

In einer der Kehren unter dem Gipfel  sehen wir in mittlerer Distanz eine weisse Kirche auf einem Waldhoger sitzen wie von einem Raumschiff abgestellt. Sie steht auf St. Galler Gelände. Dies ist der Wallfahrtsort Iddaburg, angesiedelt auf dem Areal der entschwundenen Burg, in der Idda die Nachstellungen ihres Gemahls über sich ergehen lassen musste bis zum Mordversuch.

Unsere letzten Meter führen an einer Felsfluh entlang, ein Zaun sichert den Weg. Und dann sind wir auf dem Hörnli, einem der bekannten und vielbegangenen Zürcher Oberländer Gipfel, 1133 Meter über Meer.

Schön, sind wir einigermassen früh dran, die Terrasse mit Blick zum Alpenkranz ist erst mässig besetzt. Wir belegen einen Tisch, holen uns am Ausgabefenster etwas zu trinken, stossen an auf die gewaltige Aussicht und üben uns darin, die einzelnen Berge zu benennen. Da ist der Mürtschenstock, erkennbar an seinen zwei «Ohren» links und rechts. Und da ist das Vrenelisgärtli, unverkennbar aufgrund des quadratischen Schneefeldes. Und und und.

Auf dem Hörnli – gewaltige Aussicht
Auf dem Hörnli

Wir verweilen lange. Als wir doch aufbrechen, wird es sofort sehr abschüssig. Die ersten 25 Minuten im Abstieg nach Steg brauchen Konzentration, das Weideland ist mit Kuhtritten durchsetzt, am Waldrand und später im Wald kommen perfide Baumwurzeln hinzu. Ich bin froh um meine Stöcke.

Wohltuend flaches Stück im Abstieg
Wohltuend flaches Stück im Abstieg

Schliesslich erreichen wir die junge Töss und das Dorf Steg. In fünf Minuten würde eine S-Bahn heimwärts fahren. Doch irgendwie haben wir nach gut drei Stunden Wandern noch nicht genug, die Sonne wärmt, um zwei Uhr schon nach Hause zu reisen wäre geradezu eine Sünde. Und also gibt es eine Zugabe.

Jakobspilgergruss an einer Scheune in Steg
Jakobspilgergruss an einer Scheune in Steg

Das Wegstück von Steg via Fischenthal nach Gibswil ist nicht durchgehend schön, und natürlich kann es nicht mit dem Spektakel des Berglandes mithalten, durch das wir zuvor zogen. Doch der Mühlebach bringt durchaus Stimmung in die grossteils flache Strecke und hilft, die Passagen auf Asphalt zu ertragen. Fünf Viertelstunden brauchen wir bis Gibswil, das letzte Stück führt einem Ried entlang.

Schliesslich ist Gibswil erreicht. Zwei Dinge tun wir dort. Wir betrachten erstens andächtig die Sprungschanzen im Hang und legen eine Schweigeminute für sie ein, der Winter war ja nicht gerade schneereich, viel Betrieb kann hier nicht gewesen sein. Halt, Denkfehler. Dank Plastikmatten kann hier jederzeit gesprungen werden, auch im Sommer.

Und zweitens? Wir tun, was wir nach dem Wandern am liebsten tun, wir kehren ein. Die «Gibswilerstube» ist uns von früheren Unternehmungen vertraut und lieb. Sie steht für hervorragende Coupes, tatsächlich sind an diesem Nachmittag etliche Familien und Seniorenpärchen andächtig am Löffeln.

Uns steht der Sinn mehr nach salzigen Dingen, wir bestellen von der Nachmittagskarte Kartoffelsuppe, Steinpilzravioli, Wurst-Käse-Salat. Auch eine Flasche Roten trinken wir – obwohl wir schon berauscht sind vom Hörnli.

Die Belohnung zum Wanderschluss
Die Belohnung zum Wanderschluss

Das Zürcher Oberland ist das Gegenmittel gegen zu viel Stadt und Agglo. Ein Land wie von Karl May erfunden ist es. Abenteuerterritorium.

Anforderung: 14,1 km, 686 m aufwärts / 553 m abwärts, 4 Stunden 25 Minuten. 

Route: PDF von SchweizMobil

Links: Kloster Fischingen (Kirche, Restaurant, Laden, Brauerei); Berggasthaus Hörnli; Gibswilerstube

Thomas Widmer wohnt im Zollikerberg, ist Reporter bei der «Schweizer Familie» und hat mehrere Wanderbücher verfasst. Er wandert zwei Mal pro Woche und sagt: «Man wandert nicht nur durch eine Landschaft. Sondern auch durch die Kultur, die Geschichte, die Politik. Wenns dazu etwas Gutes zu essen gibt: grossartig!»

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