«Trauerarbeit ist Schwerstarbeit»

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25. April 2022 – Die Ausstellung «Leben, was geht!» macht in Zürich Station. Thema sind Menschen, die einen Angehörigen durch Suizid verloren haben. Der Zolliker Jörg Weisshaupt (65), Geschäfts­führer des Vereins «Trauernetz», gibt Auskunft.

Jörg Weisshaupt Porträt
Jörg Weisshaupt vom Verein «Trauernetz» (Foto: zvg)

INTERVIEW: BARBARA LUKESCH

Menschen, die einen Angehörigen durch Suizid verloren haben, leiden oft jahrelang massiv unter diesem Schicksalsschlag. Wie viele Betroffene gibt es in der Schweiz?

Im engeren familiären Umfeld sind pro Suizid zwischen 5 und 10 Personen betroffen. Das macht bei rund 1000 Suiziden pro Jahr in der Schweiz bis zu 10’000 Kinder, Frauen und Männer, die mit diesem Ereignis fertig werden müssen. Folgt man den Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO, löst ein Suizid bei bis zu 135 Menschen Betroffenheit aus. Dabei sind dann allerdings auch Freundinnen, Kollegen am Arbeitsplatz oder im Freizeitbereich und Angehörige von Polizei, Sanität und Feuerwehr oder ein Lokführer miteingerechnet.

Sie sind Geschäftsführer des Vereins «Trauernetz», der Selbsthilfegruppen für Jugendliche und Erwachsene anbietet, die ihre Mutter, ihren Partner, einen Bruder, den Sohn oder eine Tochter durch Suizid verloren haben. Was brauchen diese Menschen in erster Linie?

Aus einer amerikanischen Studie weiss man, dass solche Menschen durch die komplexe Trauer, die ein Suizid auslöst, gar keine Energie haben, um für sich selbst Hilfe zu suchen. Oft vergehen dann vier bis fünf Jahre, bis sie die Kraft finden und sich an eine Beratungsstelle wenden. Geht aber jemand proaktiv auf sie zu, dauert es jeweils nur rund einen Monat, bis sie psychotherapeutische, seelsorgerische oder auch Selbsthilfe in einer Gruppe in Anspruch nehmen.

Wie erreicht man diese Menschen?

Im Kanton Zürich haben wir gerade ein Pilotprojekt mit der Polizei lanciert, die die Hinterbliebenen bereits beim Überbringen der Todesnachricht darauf hinweist, dass es den Verein «Trauernetz» gibt. Auf Wunsch gehe ich die Leute dann besuchen und informiere sie über unsere Hilfsangebote, unter anderem das «Nebelmeer», die Selbsthilfegruppen für Jugendliche, und das «Refugium», vergleichbare Gruppen für Erwachsene.

Sie sprechen bei diesen Hinterbliebenen von «komplexer Trauer». Ist sie komplexer, als wenn man einen Angehörigen durch eine schwere Krankheit verliert?

Das ist so.Ich habe 2014 meine Frau durch eine seltene Krebserkrankung verloren und zwei Jahre später meinen mittleren Sohn durch einen Hirntumor. Der grosse Unterschied zu einem Verlust durch Suizid war, dass wir noch zu Lebzeiten einen gemeinsamen Prozess des Trauerns, auch des Wütendseins durchlaufen konnten. Und – ganz entscheidend – wir konnten uns voneinander verabschieden. Das verhindert der Suizid. Man kann sich nicht verabschieden von dem, der geht. Die Trauerarbeit beginnt erst, wenn es passiert ist.

Warum aber wird sie dann so «komplex»?

Das hat vor allem mit dem Gefühlschaos zu tun, in das diese Menschen geraten. Da wechselt sich masslose Trauer mit dem Gefühl der Verunsicherung, ja, Verzweiflung ab, man isoliert sich und meidet alle Kontakte, und plötzlich empfindet man nur noch Wut auf den Partner, der einen mit der Hypothek auf dem Haus und den beiden kleinen Kindern allein zurückgelassen hat. Ratlos fragt man sich, warum er einen denn nicht ins Vertrauen gezogen hat. Ob er einen überhaupt noch geliebt hat. Eine Frau hat einmal zu mir gesagt, dass es ihr den Boden unter den Füssen weggezogen habe. Eine andere meinte, sie stehe neben sich und spüre sich nicht mehr. Und ein Mann sagte, dass er sich als Person komplett in Frage gestellt fühle und sich selbst nicht mehr kenne. Das sind Aussagen, die man auch von suizidalen Menschen kennt. Das heisst, Hinterbliebene sind selbst auch gefährdet. Unabhängig davon, ob sich ein Kind oder die Partnerin das Leben genommen hat, gibt es oft eine grosse Sehnsucht, dem geliebten Menschen nachzufolgen.

Treten auch Schuldgefühle auf, die quälenden «Hätte ich doch …» und «Wäre ich doch nicht …»-Gedanken?

Das ist tatsächlich eines der schwierigsten Gefühle, mit dem diese Menschen konfrontiert sind. Dann braucht es nur jemand Aussenstehenden, der mit leisem Vorwurf in der Stimme fragt, ob man denn nichts bemerkt habe oder warum man den Suizid nicht habe verhindern können. Auch in unseren geführten Selbsthilfegruppen ist Schuld das Thema, das von den Teilnehmern am häufigsten gewünscht wird. In diesen Gesprächen geht es primär darum, reale Schuld und Schuldfantasien zu unterscheiden. Natürlich ist es eine extrem belastende Situation, wenn ein Ehepaar am Morgen im Streit auseinandergeht und sich die Frau am Nachmittag umbringt.

Würden Sie da von Schuld reden?

Ein Stück weit schon. Vielleicht hat der Streit das Fass zum Überlaufen gebracht, aber es wird andere massgebliche Gründe gegeben haben, die diese Frau in den Suizid getrieben haben. Ich sage den Leuten jeweils, dass Streit nun mal zum Leben und zu Partnerschaften gehört. Damit macht sich kein Mensch schuldig.

Die katholische Kirche hat ja auch ihren Teil dazu beigetragen, dass die Hinterbliebenen so häufig von Schuldgefühlen heimgesucht werden.

Suizid galt dort tatsächlich bis in die 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts als Todsünde und wurde verteufelt. Der Suizident wurde nicht auf dem Friedhof neben der Kirche begraben. Entsprechend stigmatisiert wurden dadurch auch seine Angehörigen. Dieses Denken wirkt bis heute in unserer Gesellschaft nach. Und das, obwohl in der Bibel gar keine Wertung, geschweige denn eine Verurteilung vom Suizid vorgenommen wird.

Führt diese Haltung auch dazu, dass viele Hinterbliebene darüber klagen, dass sie kaum jemand auf den erlittenen Schicksalsschlag anspricht? Suizid ist offenbar immer noch ein grosses Tabu.

Ganz genau. Suizid macht man einfach nicht. Dazu lösen die Betroffenen in ihrer Umgebung oft widerstreitende Gefühle aus. Nach anfänglicher Anteilnahme kommt es nach einer gewissen Zeit nicht selten auch zu Unmut und Überdruss.

Das müssen Sie erklären.

Ich erinnere mich an eine junge Frau, die ihren Liebsten durch Suizid verloren hat. Während eines Jahres hatte sie keine Lust, sich zu schminken. Als sie eines Tages wieder geschminkt an ihrem Arbeitsplatz erschien, tuschelte man hinter ihrem Rücken, jetzt sei sie offenbar wieder normal. Als sie am selben Tag in Tränen ausbrach, weil eine schmerzliche Erinnerung sie eingeholt hatte, hiess es, aha, jetzt spinnt sie doch wieder. Solche Äusserungen sind sehr verletzend und verunsichern die Betroffenen noch mehr.

Wie können sie sich dagegen wappnen?

Ich sage den Betroffenen immer, dass sie selber massgeblich dazu beitragen können, dass ihr Umfeld ihre Situation besser versteht und sich nicht von ihnen distanziert, indem sie sich öffnen und von sich aus mitteilen, wie es ihnen geht. Dann wird auch nachvollziehbar, dass ein solcher Verlust nicht in sechs Monaten «erledigt» ist, sondern mehrere Jahre beanspruchen kann.

Darf eine aussenstehende Person das Thema denn auch von sich aus ansprechen?

Unbedingt. Sie soll möglichst konkrete Unterstützung anbieten, mit denen man die Leute abholen kann. Nichts im Stil von: «Du kannst mich jederzeit anrufen, ich bin Tag und Nacht für dich da.» Sondern: «Ich komme heute bei dir vorbei und koche für dich.» Oder: «Komm, wir gehen zusammen spazieren oder ins Kino.» Man muss sich auch nicht unter Druck setzen und nach guten Ratschlägen suchen. Das Allerwichtigste ist: ein offenes Ohr haben und zuhören.

Auf welchen Ebenen des Lebens kann sich der Schmerz der Hinterbliebenen zeigen?

Das ganze Wesen des Menschen ist betroffen. Die einen mögen nicht mehr essen, leiden gar unter Essstörungen und verlieren massiv an Gewicht. Nach anfänglicher, schockbedingter Tatkraft, die sie alles Administrative scheinbar mühelos erledigen lässt, fallen andere in ein Loch und geraten in eine Depression. Trauerarbeit ist Schwerstarbeit und fordert Körper und Geist massiv heraus.

Welche Rolle können die Selbsthilfegruppen Ihres Vereins «Trauernetz» spielen?

Man nennt die Betroffenen ja auch Survivors, Überlebende. Ein Begriff, der zum Ausdruck bringt, dass diese Menschen nach dem erlittenen Verlust eine lebensbedrohliche Krise durchlaufen, die sie enorm fordert. Dabei kann ihnen die Gruppe helfen, weil sie dort Männer und Frauen treffen, die eine ähnliche Geschichte mitbringen, grosses Verständnis für ihre Situation haben und ihnen zuhören, ohne zu werten und zu urteilen. Das Motto von «Nebelmeer» lautet: «Perspektiven für Suizidbetroffene». Das ist eines der zentralen Themen aller: wieder eine Perspektive für die eigene Zukunft zu finden.

Sie sind ursprünglich Sekundarlehrer und haben viele Jahre als Jugendbeauftragter der reformierten Kirche in der Stadt Zürich gearbeitet. Wie sind Sie dazu gekommen, sich dem Thema Suizid derart intensiv anzunehmen?

Als sich das Handy und damit die SMS immer mehr verbreiteten, beschloss Pfarrer Jakob Vetsch, der schon die Internet-Seelsorge im Rheintal gegründet hatte, den Jugendlichen dieses Angebot auch via SMS zu machen. Ich bot ihm meine Zusammenarbeit an. Mir war sofort klar, dass dies ein Kanal sein würde, der Jugendliche mit seiner Niederschwelligkeit und Anonymität mehr ansprechen würde als ein telefonischer Kontakt oder das persönliche Gespräch. So war es dann auch. Und ich habe schnell gemerkt, dass das Thema Suizid junge Leute stark beschäftigt. Da trafen Nachrichten ein wie: «Mich scheisst das ganze Leben an» oder «Ist es eine Sünde, wenn man sich umbringt?» Von dem Moment an habe ich mich mit Fachleuten vernetzt und bin dem «Forum für Suizidprävention und Suizidforschung» beigetreten, um mehr Wissen und Knowhow auf diesem Gebiet zu bekommen.

Wie kam es dazu, dass Sie sich so stark um die Nachsorge von Hinterbliebenen kümmerten?

Ich realisierte, dass die Suizidprävention langsam mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhielt, gleichzeitig aber die Nachsorge für die Hinterbliebenen auf der Strecke blieb. Das war für mich der Anlass, mich diesem Thema zu widmen. Vor 22 Jahren wurde dann «Refugium» gegründet, etwas später «Nebelmeer».

Ab 26. April macht die Wanderausstellung «Leben, was geht» in der Zentralbibliothek am Zürcher Zähringerplatz Halt. Thema sind suizidbetroffene Angehörige. Was gibt es da zu sehen und zu hören?

Zum Beispiel Podcasts von Betroffenen, einem Mann, der seine Frau verloren hat, einem Vater, der vom Suizid seines Sohnes erzählt, einer Frau, deren Mutter sich umgebracht hat, dazu von Fachleuten aus Bereichen wie Psychotherapie oder Trauerbegleitung. Zudem wird zu einem Filmabend und Podiumsgespräch eingeladen.

Zur Website der Ausstellung «Leben, was geht!»

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