Was sind schon 20 Jahre, wenn man 100 ist?

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23. Februar 2024 – Edith Hess, die am 21. August 1923 in Wallisellen geboren wurde, in Basel aufwuchs und vor 68 Jahren nach Zollikon kam, ist eine inspirierende, humorvolle Gesprächspartnerin. Nach einem Treffen mit ihr fühlt man sich reich beschenkt. (2 Kommentare)

23. Februar 2024 – Edith Hess, die am 21. August 1923 in Wallisellen geboren wurde, in Basel aufwuchs und vor 68 Jahren nach Zollikon kam, ist eine inspirierende, humorvolle Gesprächspartnerin. Nach einem Treffen mit ihr fühlt man sich reich beschenkt.

Edith Hess mit ihrer Tochter Anna Regula
Edith Hess mit ihrer Tochter Anna Regula (Fotos: bl)

100 Jahre? Edith Hess zögert keine Sekunde mit der Antwort: «100 Jahre. Mein Ehrenwort.» Sie lacht verschmitzt und ergänzt, dass sie es sich weder gewünscht noch damit gerechnet habe, so alt zu werden. Schliesslich seien ihre beiden jüngeren Geschwister, ein Bruder und eine Schwester, schon lange tot, und so habe sie keinen Grund gehabt, mit einem Alter dieses Ausmasses zu rechnen. Mit 80 wäre sie schon zufrieden gewesen.

Nun sitzt die rekordalte Dame am Tisch in ihrem Zimmer im Wohn-und Pflegeheim Magnolia im Zollikerberg, in dem sie seit einigen Monaten lebt. Ihre Tochter Anna Regula, selber auch schon 65, ist gerade zu Besuch. Edith Hess erzählt, dass der Kopf nach wie vor einigermassen funktioniere; die Augen seien auch gut, lesen und schreiben könne sie auf jeden Fall. Die Ohren hätten zwar nachgelassen, aber dank einem Hörgerät könne sie diese Schwäche kompensieren. Wenn sie dazu ihrer Gesprächspartnerin gegenübersitze und auf deren Lippen schauen könne, gehe es prima.

Humorvoll, schlagfertig und hellwach

Unser Gespräch funktioniert denn auch problemlos; wir verstehen uns bestens. Edith Hess macht es einem aber auch leicht. Sie ist eine ausgesprochen humorvolle Person; schlagfertig, aufmerksam und hellwach. Als sie sich bei der Suche nach einer Jahreszahl um mindestens 20 Jahre vertut, kommentiert sie lakonisch: «Was sind schon 20 Jahre, wenn man 100 geworden ist?» Wer ihr Alter nicht weiss, würde nie auf die Idee kommen.

Was ihr das Leben trotzdem zusehends schwermacht und dazu geführt hat, dass sie ins Heim übersiedelte, sei ihre schwindende Mobilität. Trotz Rollator könne sie sich nur noch sehr eingeschränkt fortbewegen. Am alten Wohnort an der Waldgartenstrasse im Zollikerberg, in ihrem eigenen Haus mit vielen steilen Treppenstufen, brauchte sie täglich die Spitex, dazu eine Haushaltshilfe plus weitere Unterstützung. Sie seufzt: «Mit der Zeit wurde die Organisation meines Alltags so aufwändig, dass sich der Heimeintritt nicht länger vermeiden liess.»

Natürlich möchte man wissen, wie sie es geschafft hat, so alt zu werden. Für einmal zögert sie und denkt lange nach. Dann nickt sie: «Ich glaube, es hat damit zu tun, dass ich auch als Familienfrau mit Kindern weitergearbeitet und viele Kontakte gepflegt habe und von meinem Mann, der sehr grosszügig war, immer unabhängig geblieben bin.» Da sitzt offensichtlich eine Pionierin, eine Frau, die sehr früh emanzipiert war und sehr genau wusste, was sie wollte.

«Bürofräulein» als Traumberuf

Schon die junge Edith hatte klare Vorstellungen von ihrer Zukunft. Als sich ihr die Frage stellte, was sie beruflich machen sollte, beschied sie ihren Eltern – der Vater Direktor einer technischen Firma, die Mutter gelernte Schneiderin und Hausfrau –, dass sie ein «Bürofräulein» werden wolle. Sie lacht schallend angesichts des altmodischen Begriffs: «Das hiess damals wirklich so.»

Sie besuchte also vier Jahre eine Handelsschule und arbeitete anschliessend als Sekretärin bei einer grossen Versicherung in Basel, wo sie auch aufgewachsen ist. Sie muss eine aufmüpfige Angestellte gewesen sein. Als ihr Chef ihr auftrug, einem Kunden telefonisch mitzuteilen, dass er gerade nicht im Büro sei, weigerte sie sich mit der Begründung, dass sie nicht lüge. Die folgende Kündigungsdrohung nahm sie locker: «Das wäre dann halt Schicksal gewesen.» Doch weil sie so fleissig und gut gewesen sei, habe der Chef sie behalten.

Nach einiger Zeit war ihr das Versicherungsgeschäft dann verleidet. Immer nur Zahlen und Policen und die immer gleichen Versicherungsfälle. Sie wollte mehr mit Menschen zu tun haben und meldete sich bei der Schule für Soziale Arbeit in Zürich an. Dort liess sie sich zur «Fürsorgerin» ausbilden, wie es damals hiess. Nach dem Abschluss hängte sie noch eine Qualifikation in kirchlicher Sozialarbeit an, weil sie sich immer stark für das kirchliche Leben interessiert hatte. Liebschaften, ja, sogar eine kurzzeitige Verlobung mit einem angehenden Pfarrer hatten sie für diesen Bereich sensibilisiert. Gleichwohl waren es stets staatliche Stellen wie das Jugendamt oder die Jugendanwaltschaft, die an der diplomierten Sozialarbeiterin interessiert waren.

Bewunderung für Max

Die Sozialarbeit war ihre wahre Berufung. Nach einigen Jahren in der Praxis engagierte sie sich in der Weiterbildung und gab selber Kurse. Die kürzlich verstorbene Judith Giovannelli-Blocher, Schwester von SVP-Doyen Christoph Blocher, politisch aber am anderen Ende des Spektrums angesiedelt und selber auch Dozentin für soziale Arbeit, wurde eine Wegbegleiterin und Freundin von Edith Hess.

Im Alter von 33 Jahren, also spät für die damalige Zeit, heiratete sie Max Hess, einen 14 Jahre älteren Juristen aus Zollikon, der einen neunjährigen Sohn mit in die Ehe brachte. 1958 kam ihre gemeinsame Tochter Anna Regula zur Welt. Sie habe ihren Mann sehr bewundert, schmunzelt sie, und habe es geschätzt, dass sie viele Bildungsveranstaltungen gemeinsam mit ihm durchführen konnte. Er war hauptberuflich als Vormundschaftssekretär in Zollikon tätig und daneben als Rechtsdozent an den Deutschschweizer Schulen für soziale Arbeit.

Mit der Heirat 1956 war das Paar nach Zollikon an die Witellikerstrasse gezogen, einige Jahre später dann der Wechsel auf den Zollikerberg und der Bau eines eigenen Hauses an der Waldgartenstrasse.

Die Erinnerung an den Migros-Einkaufswagen

68 Jahre Zollikon. Woran mag sie sich erinnern, wenn sie an die 50er- oder 60er-Jahre denkt? Sie habe immer gefunden, dass es in der Gemeinde viele interessante Leute gebe, erzählt sie, und darum sei es ihr auch leichtgefallen, schnell Freundschaften zu schliessen. Suche sie nach Bildern aus jener Zeit, komme ihr am ehesten der Migros-Einkaufswagen in den Sinn, der durch das Quartier kurvte.

Ihre Tochter Anna Regula ergänzt, sie erinnere sich vor allem an eine unbeschwerte Kindheit mit viel Freiheit: «Wir spielten stundenlang im Wald, und niemand machte sich Gedanken, ob uns wohl etwas zustossen könnte.» Ihre Mutter nickt: «Das Gefühl von Sicherheit war damals wohl deutlich grösser.»

Ende der 70er-Jahre erlitt ihr Mann einen Hirnschlag und wurde pflegebedürftig. Acht Jahre lang war er ans Bett gefesselt, und sie betreute ihn. Sie sagt: «Das war teilweise an der Grenze des Tragbaren.» Nachdem er 1986 gestorben war, kam sie mit ihrem Leben auch allein gut zurecht. Ihre stets bewahrte Eigenständigkeit erlaubte es ihr, weiterhin Kurse zu geben, Vorträge zu halten und auf Reisen zu gehen.

«Ich habe mein Leben gelebt»

Und jetzt also 100 Jahre alt. Als sich in den letzten Jahren langsam abzeichnete, dass sie so alt würde, habe sie oft gedacht, dass sie das ja eigentlich gar nicht wolle: «Ich habe mein Leben gelebt und fand, es sei jetzt Zeit zu gehen.» Sie habe zwar immer noch etliche Freundinnen und Freunde und bekomme sicher so viel Besuch wie die anderen Bewohnerinnen im Heim. Aber seitdem sie ihre Unabhängigkeit eingebüsst habe und ständig auf fremde Hilfe angewiesen sei, fehle etwas Entscheidendes in ihrem Leben.

Ihre Tochter interveniert: «Je näher dein runder Geburtstag kam, Mami, um so mehr hast du dich dann doch gefreut, oder?» Die alte Dame lacht. Es sei wirklich grossartig gewesen, was Anna Regula, deren Lebensmittelpunkt in Bologna liegt, zusammen mit ihrer Nichte aus Basel alles organisiert habe. Ein dreitägiges Fest, viele Besuche, der Enkel sei mit seiner Freundin aus Italien angereist, gemeinsame Essen, ganz viel Kuchen, auch der Gemeindepräsident habe auf einen Schwatz vorbeigeschaut. «Das war alles schön, und trotzdem hoffe ich nicht, dass ich noch viel älter werde.»

Fragten die Leute sie, wie lange sie denn noch leben möchte, sage sie gern: «Bis übermorgen.» Sie sei wirklich «lebensmüde». Auf die Entgegnung, dass sie überhaupt nicht so wirke; ob sie nicht eher «lebenssatt» meine, stimmt sie prompt zu. Das treffe ihr Gefühl ausgezeichnet. Sie schweigt einen Moment und ergänzt dann: «Schreiben Sie: 75 Prozent ‹lebenssatt› und 25 Prozent ‹lebensmüde›. Dann ist es ganz genau.» (bl)

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Auch ich hatte in meinen 10 Jährchen, in denen ich nun in Zollikerberg lebe die Ehre, mit Frau Hess zu diskutieren und zu philosophieren. Ganz egal unter welchen Umständen man mit Frau Hess zu tun hat, sie begegnet einem immer auf Augenhöhe, mit einer Prise Humor, und nach jedem Gespräch hat man etwas dazu gelernt. Danke für dieses Interview mit einer grossartigen Persönlichkeit.

Herzlich Gratulation, liebe Frau Hess. Ihre Reise dauert an. Ihr Buch „Die Reise ist noch nicht zu Ende“ hat mich über Jahre begleitet. Gewaltigen Dank. Alles Gute

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