Der Lombard-Effekt

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27. Februar 2023 – Wenn ich mich mit Freunden zu einem gemütlichen Essen treffen möchte, tut sich immer eine grosse Frage auf:  Wo verstehen wir unser eigenes Wort? (1 Kommentar)

Wenn ich mich mit Freunden zu einem gemütlichen Essen treffen möchte, tut sich immer eine grosse Frage auf:  Wo verstehen wir unser eigenes Wort?

Ich gehe natürlich gerne in die alten Cafés, die ich schon vor Jahrzehnten regelmässig besucht habe. Ich erinnere mich an den feinen Geruch der alten Kaffeemaschinen im Sprüngli. An dezentes Geklapper von Porzellan und silbernen Löffeln im Honold.  An leise Gespräche, gedämpftes Lachen und das Rasseln der alten Registrierkassen im alten Café Berner am Steinwiesplatz. Schön war das, beruhigend und angenehm. Ein bisschen lauter war es im Blutigen Daumen. Aber auch dort war ein Gespräch in normaler Zimmerlautstärke sogar abends möglich.

Inzwischen haben sich die Einkaufsgewohnheiten geändert und mit ihnen die Zürcher Bahnhofstrasse. Vorbei auch die Zeit, als ich mit meiner Freundin einen gemütlichen Marktbummel machte mit anschliessendem Cafébesuch. Auch wenn mich mein Weg nur noch selten an den Paradeplatz führt, gibt er mir doch Anlass für einen Besuch im Sprüngli oder in einem anderen erinnerungsträchtigen Lokal.

Aber wo ich auch hingehe, ob zu Honold, Sprüngli oder Berner, es ist überall das Gleiche. Die Lokale sind zwar chic und hip renoviert, die muffigen Spannteppiche sind durch schöne Steinböden ersetzt worden und die altbackenen Vorhängli sind weg. Allerdings mit dem Ergebnis, dass der Geräuschpegel in diesen früher so gemütlichen Restaurants und Kaffeehäusern deutlich gestiegen ist. Kein gedämpftes Lachen mehr, kein dezentes Löffelklappern. Wie kommt’s? Liegt es nur an den fehlenden Raumtextilien? Sprechen die Menschen heute lauter, weil sie sich gegen die musikalische Dauerberieselung in öffentlichen Räumen behaupten müssen?

Tatsächlich habe ich nicht abschliessend herausgefunden, woran es liegen könnte. Ich weiss nur, dass es mir ab einer gewissen Dezibel-Grenze den Appetit verschlägt und ich das Lokal fluchtartig verlassen muss.

Letzthin habe ich den Newsletter einer Firma erhalten, die sich mit der Verbesserung der Raumakustik beschäftigt und auch Restaurants berät. Ich habe mehr über dieses Thema erfahren und gelesen, dass ich nicht die Einzige bin, die empfindlich reagiert auf die permanente Reizüberflutung im öffentlichen Raum.

Es sitzen vielleicht ein paar Leute an einem Tisch im angeregten Gespräch zusammen. Die Stimmen werden lauter, es wird gelacht. Deshalb erhöhen auch die Gäste am Nebentisch ihre Lautstärke und gleichzeitig die Tonhöhe. Denn hohe Frequenzen setzen sich besser gegen Störschall durch als tiefe. Es läuft darauf hinaus, dass man sich schlimmstenfalls fast anschreien muss, um sich verständlich zu machen. Die Dynamik, die daraus entsteht, wird Lombard-Effekt genannt nach dem französischen Hals-Nasen-Ohrenarzt Etienne Lombard, der um 1911 entsprechende Feldforschungen betrieb.

Hoffentlich gibt es auf den Bewertungsportalen nebst Noten für die Qualität des Essens und der Bedienung bald auch eine Skala für die Lautstärke, mit der ein Gespräch geführt werden muss, wenn man sich verstehen will. Wo sich der Lombard-Wert im Normalbereich befindet, werde ich mich gerne mit meinen Freunden verabreden.

Betti Hildebrandt

Betti Hildebrandt war 40 Jahre lang Lehrerin an der Musikschule Zollikon. Sie ist ins Zürcher Oberland ausgewandert und pflegt seitdem ihr Heimweh.  

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Danke Betti! Sehr treffend geschrieben. Du bist da überhaupt nicht alleine, ich ergreife auch oft die Flucht. Liebä Gruess, Anna

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