Die perfekteste Wanderung seit langem

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Thomas Widmer: «Sonne, Berge rundum, ein abenteuerlicher Pfad, der Vierwaldstättersee als Augenschmeichler: Dieser Jakobsweg-Abschnitt macht uns froh. Womit wir freilich nicht gerechnet haben: dass wir unterwegs dem Tod begegnen.»

VON THOMAS WIDMER

Mein Grüppli und ich begehen heuer den Schweizer Jakobsweg von Konstanz nach Genf. Jeden Samstag machen wir eine Etappe, nehmen es dabei gemütlich, bleiben bei schlechtem Wetter auch mal daheim. In Brunnen am Vierwaldstättersee angekommen, fragen wir uns: Wie gehts weiter? Die Landeskarte hilft. Im Wasser ist eine grüne Vier eingetragen, jene Zahl, die die Via Jacobi markiert. Will heissen: Wir Jakobspilgerinnen und -pilger kommen jetzt zu einer Schifffahrt.

Die Zeit reicht in Brunnen für einen kurzen Morgenkafi, die Schifflände haben wir vor uns. Dann braust das Schiff heran, die «MS Weggis», wir gehen an Bord, richten uns auf den Bänken des Bugs ein. An der folgenden Fahrt hinüber nach Treib haben wir nur eines zu bemängeln: Sie ist mit acht Minuten viel zu kurz.

Euphorisch an Land

Immerhin reicht die Zeit fürs Benennen des einen oder anderen Berges: Das links ist der Fronalpstock. Und das vor uns der Niederbauen. Und weiter hinten erhebt sich als schneebedeckte Pyramide matterhornartig der Uri Rotstock.

Ein guter Beginn, geradezu euphorisch hüpfen wir in Treib an Land. Was für ein abgelegener Winkel! Einst waren hier Verfolgte für eine gewisse Dauer sicher, dies ist ein uralter Asylort. Sowie ein Tagungsort, an dem sich in der sehr frühen Alten Eidgenossenschaft die Abgeordneten der zugehörigen Orte trafen.

Alles hochinteressant. Auf der Terrasse der Wirtschaft mit der rustikalen Fassade könnten wir einkehren und es bedenken. Aber wir hatten den Kafi ja schon in Brunnen.

Wirtschaft bei der Schifflände in Treib (Fotos: Thomas Widmer)
Wirtschaft bei der Schifflände in Treib (Fotos: Thomas Widmer)

Also, es geht los. Wir folgen in den nächsten Stunden durchgehend der grünen Vier. Steigen auf dem Strässchen auf nach Volligen, besuchen die Kapelle. Es ist die erste von vielen am Weg, man gestatte, dass ich die folgenden Gotteshäuser und -häuschen nicht erwähne, sonst wird das hier zu klerikal. Mit einer Ausnahme, aber davon später.

Bald sind wir im Wieshang, blicken weit vorwärts über den See. Die Sonne scheint, das Wasser ist blau, es postkartet. Mein hintersinniger Freund Martin, der gern ironische Fotos macht und noch lieber das Hässliche dokumentiert, hätte an diesem Tag eine Sinnkrise, ist auf dem Jakobsweg aber nicht dabei.

Zwischen Volligen und Triglis, hinten weiss der Pilatus
Zwischen Volligen und Triglis, hinten weiss der Pilatus

Bei Triglis kommen wir in den Wald. In der nächsten halben Stunde ziehen wir durch eine Bergflanke, müssen ein wenig aufpassen, stellenweise wird der Weg zum schmalen Steig, rechts fällt das Gelände abrupt ab zum See. Aber … das ist der Jakobsweg, eine vielbegangene internationale Zu-Fuss-Route, was bedeutet: Er ist gut unterhalten. Stellenweise gibt es ein Geländer. Das ist kein obskurer Indianerpfad.

Jakobsweg als Abenteuersteig
Der Jakobsweg ist auch ein Abenteuersteig
Postkarten-Blick zurück, hinten rechts die Mythen
Postkarten-Blick zurück, hinten rechts die Mythen

Uns gefällt das Kleinstabenteuer. Freilich geraten wir ins Schnaufen, denn wir machen fortlaufend Höhe. Bis sich schliesslich ein neues Szenario ergibt: Wir treten aus dem Wald, haben die Flanke hinter uns, stehen nun am Rand eines sanften Wiesenkessels, haben den Niederbauen direkt über uns mit dem zugehörigen Seilbähnli. Die Häuser vor uns im Tal, durch das das Postauto von Beckenried nach Seelisberg verkehrt, gehören zum Emmetter Ortsteil Sagendorf.

Die Kapelle mit dem Totentanz

Eine Überraschung: die Heiligkreuz-Kapelle. Obwohl ich mich auf die Unternehmung vorbereitet habe, wusste ich nicht um den wertvollen Totentanz in ihrem Inneren, der um 1700 entstand. 1935 wurde er, nach gründlicher Restauration, hierhin überführt, nachdem die Beinhaus-Kapelle von Emmetten abgebrochen worden war, in der er zuvor gehangen hatte.

Die Heiligkreuz-Kapelle, hinten links der Niederbauen
Die Heiligkreuz-Kapelle, hinten links der Niederbauen
Der Tod ist ein kreativer, sadistischer Mörder (Foto: Rita Flubacher)
Der Tod ist ein kreativer, sadistischer Mörder (Foto: Rita Flubacher)

Wir treten ein, sind gleich gefesselt. Die Holztafel ist fast fünf Meter breit und besteht aus 23 Einzelfeldern, die den Tod in Aktion zeigen. Er ist ein Sadist, würgt das eine Opfer, ersticht das andere mit dem Messer, tötet das dritte mit der Armbrust. Ein kreativer Mörder mit Grinsgesicht und schwarzem Barett auf dem Kopf. Alle erliegen sie ihm, die Eheleute, die Äbtissin, der Bischof, der Melker. Und die Adelsfrau. Auf der ihr gewidmeten Tafel steht: «Schau an edle Dam von Graffens Stam / Schau ietz, was bist, was wirst werden / Deine Schönheits Ruohm gleich wie ein Bluom / Verwelkht, fault in der Erden.»

Emmettens Warnung vor dem Cüpli
Emmettens Warnung vor dem Cüpli

Huch. Gut, geht es uns an diesem Tag allen so gut, dass wir den Tod schnell wieder verdrängen können, während wir von Sagendorf über die sanfte Wiesenkrete nach Emmetten halten. Dort landen wir im Himmel. Oder immerhin an einem himmlischen Ort. Direkt an der Strasse steht das Hotel Engel. Wir lassen uns – wir sind zu sechst – an zwei Tischli vor dem Haus nieder. Wir drei Biertrinker stossen an. Nein, nicht auf den Tod! Aber auf den Tag, an dem wir ihm gegenüber getreten sind. Und es überlebt haben.

Das letzte Drittel der Wanderung ist dann rasch absolviert. Wir durchqueren Emmetten und weichen dort von der Strasse ab, wo sich diese Richtung Beckenried zu senken beginnt. Wir biegen rechts in den Hang, die nächsten gut 250 Höhenmeter im Abstieg absolvieren wir auf einem Waldpfad mit vielen Kehren. Auch hier wieder: Das ist der Jakobsweg, er ist komfortabel ausgebaut. Er hat allerdings, ums in der Weinsprache zu sagen, eine Nase. Es stinkt nach überreifem Bärlauch.

Bei Rütenen unterqueren wir die Autobahn, die ganz in der Nähe im Seelisbergtunntel verschwindet. So splendid ist das Wetter, so blau der Vierwaldstättersee, so schmuck der Berg vor unseren Augen, dass diese Raserpiste, die A2, uns nicht hässlich vorkommt. Sondern dekorativ. Als schmuckes Band empfinden wir sie.

Schmuckes Autobahnband, hinten rechts die Mythen
Schmuckes Autobahnband, hinten rechts die Mythen

Zum Berg noch einmal, den wir direkt gegenüber auf der anderen Seeseite sehen. Er ist Teil des Rigigebirges. Überragt die Orte Vitznau, Kanton Luzern, und Gersau, Kanton Schwyz. Und trägt zwei Namen: Vitznauerstock respektive Gersauerstock, je nach dem Dorf, aus dem man zu ihm aufschaut.

Beckenrieds Pfarrkirche markiert das Wanderziel
Beckenrieds Pfarrkirche markiert das Wanderziel

Die letzte halbe Stunde verläuft auf Asphalt, wir gehen parallel zum Seeufer, freuen uns darüber, wie schnell die Pfarrkirche von Beckenried näherkommt, erblicken schliesslich die Terrasse des Restaurants direkt am See, in dem ich reserviert habe. Das «Rössli», bei der Schifflände von Beckenried gelegen. Wenige Minuten später nehmen wir Platz. Und essen im Folgenden so gut, dass wir uns kalauernd auf folgendes Fazit einigen: Das war die perfekteste Wanderung seit langem.

Feines Fischsüppli mit Safran
Feines Fischsüppli mit Safran

Anforderung: 12,3 km, je 534 Meter auf und abwärts, 3 Stunden, 42 Minuten.

Route: PDF von SchweizMobil

Links: Heiligkreuz-Kapelle mit dem Totentanz, «Engel» Emmetten, «Rössli» Beckenried.

Thomas Widmer wohnt im Zollikerberg, ist Reporter bei der «Schweizer Familie» und hat mehrere Wanderbücher verfasst. Er wandert zwei Mal pro Woche und sagt: «Man wandert nicht nur durch eine Landschaft. Sondern auch durch die Kultur, die Geschichte, die Politik. Wenns dazu etwas Gutes zu essen gibt: grossartig!»

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