Eine Oase im «Armenhaus» Brasiliens

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10. März 2023 – Auswandern: viele träumen davon, einige tun es. Mein Bruder Markus Michael hat sich im «Armenhaus» Brasiliens eine Oase mit reicher Tier- und Pflanzenwelt geschaffen. Zuvor war er in Kriegsgebieten als Arzt für das IKRK, die UNO und die EU tätig.

Markus in der Hängematte
Auch ein Farmer braucht mal etwas Ruhe (Fotos: Adrian und Markus Michael)

VON ADRIAN MICHAEL

Seit einer Woche bin ich bei meinem Bruder im abgelegenen Nordosten Brasiliens zu Besuch. Gegen Abend machen wir es uns in den Hängematten auf der Veranda bequem, jeder mit einem Bier in der Hand. Da kommt atemlos sein Angestellter Cajo herbeigerannt: «Marcos! Unser Schafbock hat den Bock unseres Nachbarn totgemacht!»

Menelik
Menelik

Menelik, so der Name des Bockes, war schon mehr als einmal durch aggressives Verhalten aufgefallen, aber das ist nun doch eine neue Dimension. Wir klettern aus unseren Hängematten und begleiten Cajo zum «Tatort».

Tatsächlich: Menelik hat den Zaun niedergetreten und den um einiges grösseren Kontrahenten mit heftigen Kopfstössen derart malträtiert, dass er regungslos am Boden liegt. Der Täter steht daneben und guckt, wie mir scheint, etwas verblüfft auf sein Opfer.

Nachdem wir Menelik in sein Gehege zurückbugsiert haben, fahren wir zum Nachbarn, der ein paar Minuten entfernt wohnt. Er nimmt es gelassen, das könne vorkommen, sagt er achselzuckend. Die angebotene Entschädigung lehnt er ab. Später erfahren wir, dass er den Bock notschlachten musste.

Zurück im «Heimetli», wie Markus seine Behausung nennt, legen wir uns mit einem frischen Bier wieder in die Hängematten. Bei einbrechender Dunkelheit reden wir über alte Zeiten und darüber, wie alles begann.

Per Zufall in Brasilien

Nach Brasilien als Wahlheimat kam er «aus Zufall und sehr nahdisnah». Während seines Medizinstudiums hörte er 1979 an der Uni die Vorlesung eines chilenischen Arztes, der wie viele andere vor Pinochets Diktatur nach Rio de Janeiro geflüchtet war und dort sein Glück gefunden hatte.

Nach dem Vortrag löcherte er ihn mit Fragen. «Komm’s dir doch anschauen», sagte der Arzt – und Markus flog nach Brasilien. Im Flughafen von Rio de Janeiro hatte er sein erstes Schlüsselerlebnis: Die Durchsagen der Sprecherin Iris Lettieri galten weltweit als die sinnlichsten – für ihn eine Bestätigung, am richtigen Ort zu sein.

In einem Armenviertel bei São Paulo arbeitete er als Praktikant. Mit knapp 30 war er Arzt an Brasiliens wichtigstem Infektionskrankenhaus und am Tropeninstitut an einer Forschungsarbeit für seine Dissertation. Die erste Aids-Welle rollte mit verheerenden Auswirkungen an: alle seine Patienten starben.

Interventionen in aller Welt

Seine Berufung fand er beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz. Als Manager von Gesundheitsprogrammen arbeitete er zwölf Jahre in Zentralamerika und Afrika, im Nahen Osten und Asien, wo er in Kambodscha 1991 den Kinderarzt Beat Richner ins Gesundheitsministerium in Phnom Penh einführte.

Neun Jahre später machte er sich selbständig. Seither hat er in rund 60 Ländern nebst dem IKRK grosse Organisationen wie die die UNO und EU in Fragen der Gesundheitspolitik und Interventions-Strategien im Krieg beraten. Afghanistan, wo er 23 Einsätze hatte, wurde fast zu einem dritten Zuhause. Seine wissenschaftlichen Publikationen aus den Kriegsgebieten wurden weitherum beachtet. Markus interpretiert den Erfolg auf seine Weise: «Wer in den Krieg geht, ist Macher und nicht Denker – und letztere sind zu klug, sich dorthin zu begeben.»

Seit seiner Pensionierung im vergangenen Jahr wohnt er permanent in Brasilien – zu zwei Dritteln in São Paulo, zu einem Drittel in seinem «Heimetli» im Nordosten des Landes, rund 2500 km von der Grossstadt entfernt, ausserhalb des kleinen Dorfes São Joaquim do Salgado, gut 200 Kilometer südwestlich von Fortaleza.

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Er entwarf für sich ein einstöckiges quadratisches Gebäude mit einer Seitenlänge von neun Metern, umgeben von einer drei Meter breiten Veranda. Im Haus tritt man in einen grossen Raum mit der Küche. Zwei Schlafzimmer gibt es, ein Badezimmer und einen kleinen Raum mit Waschmaschine. Sonnenkollektoren auf dem Dach liefern die nötige Energie.

7 Das «Heimetli»
Das «Heimetli»
Innenraum
Der Innenraum
Die Küche
Die Küche

Die Einrichtung ist spartanisch, man hält sich bei diesem milden Klima ja praktisch immer im Freien auf. Informationen und Unterhaltung liefert das Internet, WiFi funktioniert (meistens) tadellos. Die wichtigsten «Aussenmöbel» sind die grossen Hängematten, die auf der Veranda zwischen Pfosten aufgespannt sind.

Die Veranda
Die Veranda

Aus einer Einöde wird eine Oase

Als Markus 2016 hier eintraf, glich die Gegend einer Mondlandschaft. Der Boden war durch Schafe übernutzt, kahl und steinig; nicht einmal Erde gab es. Er legte kleine Steinwälle an, um die Erosion zu bekämpfen und die Wiederansiedlung der natürlichen Vegetation zu fördern. Er pflanzte Setzlinge von Fruchtbäumen und Sträuchern wie Acerola, Sternfrucht oder Cashew. Später kamen Zitrusfrüchte, Kokospalmen und Bananen dazu.

Zahlreiche Büsche wie Hibiskus, Oleander und Bougainvillea sorgen für Farbtupfer im stetig wachsenden Grün. In einem Steingarten gedeihen Sukkulenten wie Wüstenrose, Feigenkaktus oder Drachenfrucht. Die abgefallenen Blätter der Bäume und Büsche düngen zusammen mit dem Mist der Schafe den Boden.

Die wichtigsten Quellen für die Wasserversorgung sind zwei 100 Meter tiefe Brunnen, die Markus hat graben lassen. Ihr Wasser wird in einen Turm unweit des Hauses gepumpt. Um das Grundwasser zu schonen, hat er mit seinem Nachbarn einen Stausee anlegen lassen, dessen Wasser in einen eigenen Tank im Wasserturm gepumpt wird. Durch ein Röhrensystem wird es mit Tropfenbewässerung gezielt an die Bäume und Büsche abgegeben. 5000 Liter werden dafür im trockenen Halbjahr täglich benötigt.

Das Experiment mit den Ziegen scheiterte

Ein Experiment mit der Ansiedlung von zwei Toggenburger Ziegen scheiterte: Obwohl die beiden beste Milch produzierten, verkaufte Markus die Tiere, da der Angestellte in seiner Abwesenheit die Milch den Schweinen verfütterte; Ziegenmilch ist mit einem anscheinend unüberwindbaren Vorurteil behaftet.

Das viele Grün, die blühenden Pflanzen, die Früchte und Samen haben zur Folge, dass neben bunten Schmetterlingen und anderen Insekten auch zahlreiche Vogelarten zurückgekehrt sind. Mancherorts zwitschert es aus dem Gebüsch, Schuppentäubchen nisten, mehrere Arten von Kolibris schwirren umher. Unter dem Dach hat sich ein Hauszaunkönig eingerichtet, der mit lautem Gezwitscher oft kundtut, dass es ihm in seinem ungewöhnlichen Lebensraum wohl ist.

Besonders stolz ist Markus auf die Baobab-Bäume, die er bei seinen Reisen in Afrika immer bestaunt hatte. Die Setzlinge aus Samen von Mosambik und Senegal gedeihen gut, einige Bäume sind schon mehrere Meter hoch. Er formt sie auch als Bonsai. «O Baobá» nennt er auch sein Anwesen.

Dass es ihm als agronomischen Laien gelungen ist, aus diesem öden Grundstück eine blühende Oase zu schaffen, die zahlreichen Pflanzen- und Tierarten wieder einen Lebensraum bietet, erfüllt ihn mit grosser Zufriedenheit. Im Gegensatz zu seiner beruflichen Tätigkeit, wo alles geplant, kalkuliert und messbar sein musste, geniesst er es, mit seinem «Heimetli» den Moment zu leben, kein Ziel zu haben – nichts zu müssen, wenig zu planen und auch mal Rückschläge hinzunehmen wie die eher missglückten Versuche, Weihrauch- und Arganbäume anzupflanzen.

tropische Blütenpracht
Tropische Blütenpracht

Als die Bienen kamen

Beim nächsten Bier erzählt er mir ein weiteres aussergewöhnliches Erlebnis. Eines Vormittags erfüllte plötzlich ein Summen die Luft: Ein riesiger Bienenschwarm näherte sich. Vor dem Haus bremste er ab, wie wenn die Bienen überlegen müssten, was sie tun sollten. Nun, sie entschieden sich und flogen geradewegs durch die weit geöffnete Haustüre ins Haus, keine Chance, etwas dagegen zu tun. Nachdem sie sicher eine Stunde lang ziellos im Haus herumgesurrt waren, liessen sie sich an einem der hölzernen Pfosten nieder und bildeten eine riesige Traube.

Wie wird man so etwas wieder los? Markus wusste: Bienen mögen keinen Rauch. Also entzündete er ein Feuer in einer Schubkarre, bedeckte es mit frischem Gras und blies den Rauch mit einem Ventilator gegen die ungebetenen Gäste. Der Erfolg liess nicht lange auf sich warten: Der Schwarm löste sich auf, verliess das Haus und bildete an einer Palme eine neue Traube. Später zogen sie dann weiter, hinaus in die Wildnis, wo der Honig von umherstreifenden Bauern geerntet wird.

Mit Hund und Katze

Auf seinem «Heimetli» leben auch der Hund Pecorino und die Siamkatze Aurora. Der Pfauenmann Aryan stolziert durch die Gegend. Eines der Weibchen fliegt bei Einbruch der Dämmerung jeweils auf einen Baobab, wo es die Nacht verbringt. Selten lässt sich die stattliche Vogelspinne Thekla blicken. Sie wohnt irgendwo ums Haus in einer Erdhöhle und soll ungefährlich sein.

Abendstimmung. Links das Pfauenweibchen auf dem Baobab
Abendstimmung. Links das Pfauenweibchen auf dem Baobab
Ein Teil des Zoos
Ein Teil des Zoos

Auch Schlangen begegnet man hin und wieder, darunter die elegante Grüne Kobra oder die Brasilianische Lanzenotter. Ein besonderer Bewohner der Umgebung war ein knapp ein Meter langer Leguan, der eines Tages tot vom Hofhund angeschleppt wurde. Damit wurde auch klar, wo das Dutzend Entenküken abgeblieben war… Der Leguan, einen besseren Ruf geniessend als Ziegenmilch, wurde tags darauf von Dorfbewohnern gerne verspeist. Ein weiterer Räuber war das Gemeine Weissohrpossum, das ebenfalls von den Hunden angeschleppt wurde.

Leguan und Weissohrpossum
Leguan und Weissohrpossum

Kein Gedanke an Rückkehr

Seine alten FreundInnen in der Schweiz versuchten Markus schon oft dazu zu bewegen, nach Zürich zurückzukehren, aber nach fast vier Jahrzehnten im Ausland war es wohl zu spät für eine Reintegration. Vor gut 20 Jahren liess er sich einbürgern. Er ist nun schweizerisch-brasilianischer Doppelbürger, nimmt in beiden Ländern an Abstimmungen teil und reist jedes Jahr nach Europa, um hier Familie und Freunde zu besuchen – «one doesn’t make old friends».

Auch hat er sich in São Paulo eine «postmoderne» Familie aufgebaut. Sein Adoptivsohn wandert mit Enkel aber gerade nach Los Angeles aus, wie viele gebildete Brasilianer, leider. Ob ihm etwas fehlt in Brasilien? «Das Läuten von Kirchenglocken, die Folge der Jahreszeiten, von denen es hier nur zwei gibt, Zeugnisse und das Verstehen von Geschichte. Und dass Orte, die für alle sein sollten wie zum Beispiel Sportanlagen nur gut Betuchten zugänglich sind – das ist schwer zu ertragen, auch wenn man dazu gehört.»

Die Mega-Metropole bietet ihm neben einem guten Kulturangebot auch einen interessanten demographischen Mix. Zusätzlich zum üblichen Völkergemisch südamerikanischer Städte gibt es dort eine grosse jüdische und syrisch/libanesische Community sowie Ostasiaten verschiedener Herkunft. Zudem gilt São Paulo weltweit als die grösste italienische Stadt.

Die Leute seien offener und kontaktfreudiger als in der Schweiz, sagt Markus, auch wenn der Austausch mit gebildeten Menschen eher rar sei – «me cha nöd alles haa».

Die brasilianische Gesellschaft erlebt Markus seit 2018 tief gespalten: Hier die Middle- und Upperclass-Anhänger Bolsonaros, dort das «Volk». Im Fall einer Wiederwahl Bolsonaros hätte Markus sogar einen Umzug nach Para- oder Uruguay erwogen.

Spät in der Nacht frage ich ihn noch, was denn nun mit dem Übeltäter Menelik passiere. «Morgen kommt der Metzger», sagt er trocken. Später wird ein neuer Bock zur kleinen Schafherde stossen: Menelik II, eine seltene weisse Variante.

Wir liegen in unseren Hängematten, gönnen uns noch ein letztes Bier und geniessen die Stille. Keine Autos sind zu hören, keine Flugzeuge am Himmel, keine Eisenbahn rauscht vorbei. Frösche quaken, ein Käuzchen ruft, vielleicht bellt mal ein Hund. Sonst: nichts. Schön.

Feierabend
Feierabend

Wer auf Google Earth nachschauen möchte, wo das «Heimetli» liegt: 5°25’11.19 S, 39°35’49.31 W. Links ist schwach der Wasserturm erkennbar, die helle Fläche ist der See mit niedrigem Wasserstand. Im Nordwesten steht das Haus des Angestellten. Die angelegten Steinwälle sind gut erkennbar. Im Westen das Dorf São Joaquim do Salgado.

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