Was, wenn in Zollikon die Lichter ausgehen?

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15. Februar 2022 – Wer übernähme in Zollikon die Führung und wer täte was, wenn ganz Europa als Folge einer Cyberattacke zwei Wochen lang ohne Strom wäre? Gemeindepräsident Sascha Ullmann bringt Licht ins Dunkel und erklärt eine Verordnung, die Anfang 2022 in Kraft getreten ist.

Kerze im Dunkeln
Kein Strom mehr – aber hoffentlich Kerzen im Notvorrat? (Foto: pixabay)

Im Juni 2010 machte die Schadsoftware Stuxnet weltweit Schlagzeilen. Sie zielte auf die Steuerung industrieller Anlagen und war in der Lage, die Geschwindigkeit von Motoren zu manipulieren.  Mit Stuxnet sabotierte eine unbekannte Täterschaft die Zentrifugen einer Uran-Anreicherungsanlage im Iran. Spätestens jetzt war klar, dass auch Kraftwerke zum Ziel einer solchen Attacke werden könnten.

2012 wurde in Deutschland der Technik-Thriller «Blackout»* zum spannendsten Wissensbuch des Jahres erkoren. Es wurden mehr als eine Million Exemplare verkauft. Die Story ist beklemmend: Europa versinkt nach einem Cyberangriff im Chaos – kein Strom mehr in den Haushaltungen, keine Wasserversorgung, keine Heizung, kein Gas, kein Benzin an den Tankstellen, keine Medikamente, geschlossene Einkaufsläden, kein Internet, keine Telefonverbindungen, denn alles hängt am Strom.

«Ausserordentliche Lage»

Da drängt sich die Frage auf: Wie würden die Zolliker Behörden mit einem wochenlangen Stromausfall umgehen? Anfang Jahr ist eine neue Organisationsverordnung** in Kraft getreten, ein Reglement über das niemand auch nur ein Wort geschrieben hat.

Dabei geht es um viel: In den Artikeln 65 und 66 wird der Schutz der Zolliker Bevölkerung in «ausser­ordenlichen Lagen» geregelt. Die Texte sind nur schwer verständlich, Beamtendeutsch halt, aber die beiden Paragrafen sind so wichtig, dass wir versuchen, sie mit Hilfe des Gemeindepräsidenten für die Bevölkerung verständlich zu machen. (rs)

Porträt Sascha Ullmann

Herr Ullmann, was würden Sie als Erstes tun, wenn es in Europa zu einem totalen, lang anhaltenden Stromausfall käme?

Mein erster Gang wäre ins Gemeindehaus für eine Lagebeurteilung mit dem Gemeindeschreiber Markus Gossweiler: Was ist passiert? Wie sind wir tangiert? Wie lange könnte der Stromausfall dauern? Wir würden uns mit den Verantwortlichen der Bereiche Sicherheit und Umwelt kurzschliessen und die Lage analysieren: Was müssen wir als Erstes tun, was danach? Was braucht es an Mitteln? Irgendwann kommt der Entscheid, den ganz grossen Knopf zu drücken und die beiden Krisenstäbe einzuberufen.

Zwei Krisenstäbe?

Der eine Kristenstab, das sogenannte Gemeindeführungsorgan GFO, wäre für den Schutz der Bevölkerung zuständig – hier geht es um den äusseren Bereich, um Polizei, Feuerwehr, Zivilschutz, Wasser- und Gesundheitsversorgung. Stabchef wäre der Abteilungsleiter Sicherheit und Umwelt Frank Neuhäuser. Der andere Krisenstab wäre für den inneren Bereich zuständig. Er müsste sicherstellen, dass die Verwaltung auch unter erschwerten Bedingungen funktioniert. Dort wäre ich als Gemeindepräsident dabei, André Müller-Bosch als Ressortverantwortlicher Sicherheit und Umwelt, der Gemeindeschreiber sowie Vertreter der Schule und des Wohn- und Pflegezentrums. Insgesamt umfassen die beiden Krisenstäbe rund ein Dutzend Leute.

Wo versammeln sich die Krisenstäbe?

Wenn immer möglich bleiben wir im Gemeindehaus. Der Bodmersaal ist bombensicher gebaut worden, was Symbolkraft hat. Eine Notstromgruppe für das Gemeindehaus steht im Werkgebäude an der Rietstrasse. Wenn alle Stricke reissen, beziehen wir den Kommandoposten in der Zivilschutzanlage beim Füchslibrunnen oben auf der Allmend. Der Zivilschutz würde mit seiner Gruppe «Führungsunterstützung» für Notstrom, Notkommunikationsmittel und Verpflegung sorgen.

Für wie lange könnten sich die Krisenstäbe im Kommandoposten einrichten?

Es handelt sich um eine Zivilschutzanlage, also für sehr lange. Die Arbeit der Krisenstäbe hört nicht auf, wenn die letzte Notstromgruppe abstellt und alle im Dunkeln sitzen. Sie müssen auch bei Kerzenlicht weiterarbeiten.

Über welche Kanäle könnten die Behörden mit der Zolliker Bevölkerung kommunizieren, wenn es keinen Strom mehr gibt, kein Telefon, kein Internet?

Notfalltreffpunkt
Notfalltreffpunkt (Foto: rs)

Wir haben Lautsprecheranlagen auf Fahrzeugen der Feuerwehr und des Zivilschutzes. Die fahren auf festgelegen Routen durch die Quartiere und machen Durchsagen. An den Anschlagbrettern der Gemeinde können wir Flyer aushängen; im Gemeindehaus stünde auch eine Auskunftsperson zur Verfügung. Seit kurzem haben wir Notfalltreff­punkte eingerichtet, wo sich die Menschen informieren können. Im Dorfzentrum bei der Einfahrt zur Tiefgarage, im Berg beim Schulhaus Rüterwis am Schulweg 6. Wir haben ausserdem den Sirenenalarm und die Möglichkeit, Nachrichten über das Radio zu senden – was bedingt, dass in den Haushalten batteriebetriebene Geräte vorhanden sind. Weitere Kommunikationsmittel sind Flugblätter, Meldeläufer und die mündliche Weitergabe wichtiger Informationen. Es gibt etliche Kommuni­kations­­kanäle, die ohne Strom auskommen, aber es wäre eine Herausforderung, wir müssten alle Register ziehen.

Was hätte für den Krisenstab in den ersten 48 Stunden Priorität?

Ein Krisenstab hat die Aufgabe, vorauszuschauen und zu überlegen, was vorbereitet werden muss für die Zeit, in der die Vorräte zuhause zur Neige gehen, die Wasserversorgung nicht mehr funktioniert und – im Winter – die Heizungen definitiv kalt sind. Die anfängliche «Chaosphase», die nicht zu vermeiden ist, darf also nicht zu lange dauern.

Was passiert, wenn die Wasserversorgung zusammenbricht, weil die Pumpen keinen Strom mehr haben?

Wenn uns die Werke am Zürichsee sagen, «wir schaffen die Versorgung nicht mehr», haben wir in der ganzen Gemeinde gesetzlich vorgeschriebene Notwasserstellen, die direkt vom Reservoir gespiesen werden. Die Feuerwehr nimmt sie in Betrieb, es handelt sich um Vorrichtungen, wie wir sie von der Pfadi oder von Openairs kennen – lange Stangen mit Wasserhähnen, die an Hydranten angeschlossen sind. Da können die Leute in den Quartieren ihre mitgebrachten Gefässe füllen.

Gibt es auch ein Notkonzept zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung und Medikamenten?

Nein, das ist nicht unser Auftrag, das liegt in der Eigenverantwortung der Bevölkerung. Der Bundesrat hat gerade am letzten Montag dazu aufgerufen, Notvorräte für eine Woche anzulegen. Bei einer längeren Notlage wäre der Bund verantwortlich für die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungs­mitteln und Medikamenten. In der Kaskade Bund – Kantone – Gemeinden hätten wir im worst case-Szenario sicher die Aufgabe, alles gerecht zu verteilen. Das könnte soweit gehen, dass wir in den Zivilschutzanlagen Notküchen einrichten müssten.

Haben Sie zuhause einen Notvorrat?

Ja, wir haben einen, und wir haben ausserdem das Glück, über einen schönen Garten zu verfügen, wo einiges wächst.

Wann haben Sie zuletzt für ein Katastrophenszenario geübt?

Letzten Herbst habe ich mit Vertretern von zwei anderen Gemeinden an einem eintägigen Kurs «Kommunikation in Krisen» teilgenommen. Im Szenario war das Dach des Gemeindesaales nach einem Brand eingestürzt. Zwei Gemeindeangestellte wurden vermisst, eine Person konnte nur noch tot geborgen werden. Es wurde ruchbar, dass der Gemeindesaal in einem miserablen Zustand gewesen sei. Die Behörden hätten es gewusst, aber nichts unternommen. Die Kommunikation in solchen Fällen ist anspruchsvoll, auch wenn uns die Kantonspolizei mit ihrem Knowhow zu Hilfe eilen würde. Mir wurde in der Übung das Messer gehörig an die Kehle gesetzt!

Man darf also davon ausgehen, dass sich die Verantwortlichen der Gemeinde und die Stäbe permanent auf ausserordentliche Geschehnisse vorbereiten?

Es gibt auf verschiedenen Ebenen Angebote, die man wahrnehmen muss, und ich gehe davon aus, dass es künftig – nicht zuletzt als Folge der Pandemie – noch mehr geben wird.

Was macht Ihnen am meisten Sorgen?

Wenn eine Katastrophe flächendeckend ist, stehen überall alle verfügbaren Kräfte im Einsatz. Es gibt keine Nachbarschaftshilfe mehr. Beim Hochwasser von 1999 waren alle Feuerwehrleute in allen Gemeinden unterwegs und nach zwei Tagen völlig ausgepowert. Ausserdem fehlte es an Mitteln. Alle fragten: Wo bekommen wir Sandsäcke her, wo zusätzlichen Sand? Vorher hatte niemand gedacht, dass das zu einem Problem werden könnte. Man muss immer damit rechnen: In grossen Krisen kann man auf sich allein gestellt sein. Sollten bei einem langen Stromausfall nach einiger Zeit Unruhen ausbrechen, wären unsere sieben Polizisten mit Sicherheit überfordert.

Wir haben während der Pandemie eine «ausserordentliche Lage» erlebt. Welche Lehren hat der Gemeinderat daraus gezogen?

Da geht es eben genau um den Artikel 65 der neuen Verordnung. In der Pandemie hat sich gezeigt, dass wir neben dem gesetzlich vorgeschriebenen Bevölkerungsschutz ein zweites Führungsorgan auf Gemeinderatsstufe benötigen.

Welche Aufgaben oblagen diesem Organ?

Wir hatten im Ausschuss mehr als 20 Sitzungen. Jedesmal, wenn der Bundesrat über neue Mass­nahmen entschied und diese kommunizierte, sassen wir vor dem Fernseher und überlegten, was das für uns, für die Gemeinde bedeutete. Es ging beispielsweise um die Umsetzung der Maskenpflicht in gemeindeeigenen Einrichtungen und Betrieben oder um die Umsetzung der Homeofficepflicht. Das waren alles komplexe und zeitraubende Aufgaben, die über den klassischen Bevölkerungsschutz hinausgingen.

** PDF: Organisationsverordnung der Gemeinde Zollikon mit den Artikeln 65 und 66

PDF: Broschüre «Kluger Rat – Notvorrat»

Cover Buch Blackout

* Buchtipp: Welche Folgen sind vorstellbar, wenn in Europa sämtliche Stromnetze zusammenbrechen? In seinem Bestseller-Roman «Blackout – Morgen ist es zu spät» hat der Wiener Autor Marc Elsberg dieses Szenario aufgegriffen, detailliert ausgemalt und aus dem brisanten Stoff einen beklemmenden, packenden Thriller gemacht. Blanvalet-Verlag, 2012, Taschenbuch

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