Allys Albtraum
0 KOMMENTARE
Balz Spörri: «Am 27. November 2024 postete Ally Louks auf der Plattform X ein Foto von sich. Sie strahlt darauf. Gerade hat ihr die englische Elite-Universität Cambridge den Doktortitel verliehen. Doch was dann folgt, ist ein Albtraum.»

VON BALZ SPÖRRI
Am 27. November 2024 postete Ally Louks auf der Plattform X ein Foto von sich. Sie strahlt darauf. Gerade hat ihr die englische Elite-Universität Cambridge den Doktortitel verliehen. Doch was dann folgt, ist ein Albtraum.
Der Post der jungen Literaturwissenschafterin wird über 120 Millionen mal angeklickt und (neben Glückwünschen) mit unzähligen Hassbotschaften kommentiert. Ein X-Nutzer schreibt, Louks’ Gehirn sei krank, ein anderer meint, sie solle besser heiraten und Kinder bekommen, als einen Doktortitel zu erwerben. Die Polizei von Cambridgeshire hat bestätigt, dass sie zahlreichen Drohungen gegen Ally Louks nachgehe, wie der österreichische «Standard» kürzlich schrieb.
Woher dieser Hass? Auf dem Selfie von Ally Louks ist der Titel ihrer Doktorarbeit zu sehen. Übersetzt heisst er «Olfaktorische Ethik: Die Politik des Geruchs in moderner und zeitgenössischer Prosa». Olfaktorisch bedeutet «den Geruchssinn betreffend».
Klingt harmlos. Millionen von X-Nutzern haben darin jedoch nur ein weiteres Beispiel für das ihrer Meinung nach abgehobene Geschwurbel verhasster, woker Akademikerinnen und Akademiker gesehen.
Nüchtern betrachtet, hat Louks in ihrer Studie untersucht, wie Autoren des 20. Jahrhunderts in ihren Romanen den Geruch thematisieren, um auf gesellschaftliche Vorurteile und Spannungen hinzuweisen.
So kritisiert etwa George Orwell in «The Road to Wigan Pier» (1937), dass den unteren Schichten immer unterstellt werde, dass sie übel riechen. Und in Toni Morrisons «Tar Baby» (1981) sagt eine Romanfigur zu einer schwarzen Frau: «Ich weiss, dass du ein Tier bist, ich kann es riechen.»
In der Zusammenfassung ihrer Arbeit führt Louks aus, dass der Geruchssinn eine wichtige Rolle dabei spielt, wie wir die Welt und die Menschen um uns herum wahrnehmen. Und dass wir ihm und den olfaktorischen Vorurteilen deshalb mehr Beachtung schenken sollten.
Keiner der hasserfüllten X-Nutzer hat Ally Louks Studie gelesen. Allein der angeblich woke Titel der Dissertation hat sie getriggert. Ein anständiger, vernünftiger Diskurs – die Basis jeder wissenschaftlichen Forschung – ist so nicht mehr möglich.
Der kanadische Philosoph Marshall McLuhan (1911-1980) hat die Medien einmal als «Ausdehnung des menschlichen Nervensystems» bezeichnet. Wenn das zutrifft, brauchen wir, und damit meine ich in erster Linie die sozialen Medien, dringend Beruhigungstropfen. Und zwar starke.
Zusammenfassung der Studie
Artikel des «Standard» zum Fall

Balz Spörri (geb. 1959) lebt als Journalist und Autor in Zürich.