Gedenkstätte für einen vergessenen Dichter

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Thomas Widmer: «Diesen Winter verspüre ich wenig Lust, in den Bergen zu wandern – ich fürchte den Rummel, der ja meist schon im Zug beginnt. Im Flachland ist es ruhiger, und man erfährt so manches. Diesmal lernte ich Alfred Huggenberger kennen.»

VON THOMAS WIDMER

Wie motiviert man ein Wandergrüppli? Meine Leute sind prinzipiell immer willig. Die Verheissung einer Pizza macht sie noch williger. In Frauenfeld gehen wir zum Schluss der Wanderung Pizza essen, habe ich ihnen versprochen. Tatsächlich will dann unterwegs niemand länger Pause machen. Pizza wirkt immer. Am Bahnhof von Elgg starten wir, an der Strecke von Winterthur nach Wil. Das historische Städtchen liegt 15 Gehminuten entfernt, hat mit seinen Fachwerkbauten enorm viel Cachet. Bloss: Diesmal kommen wir nicht hin.

Also, wir starten. Gehen als erstes ziemlich lange retour in die Richtung, aus der wir mit dem Zug angereist sind: Richtung Winterthur. Bald kommen wir weg vom Asphalt, gehen durch die gefrorenen Äcker. Noch einige Zeit bleiben wir danach dem Tal der Eulach treu, bis wir nach Norden abdrehen.

Schneeloser Januar kurz nach dem Start in Elgg
Schneeloser Januar kurz nach dem Start in Elgg

Durch die bewaldete Zünikerhalde machen wir Höhe. Ein wenig Höhe, dies ist eine ziemlich leichte Route. Als wir wieder aus dem Wald treten, eröffnet sich uns eine ganz neue Landschaft: weites gewelltes Land, darin eingestreut Dörfchen. Dasjenige direkt unter uns ist Zünikon.

Oberhalb von Zünikon geniessen wir die (schwache) Sonne, gleich gehts länger durch den Wald
Oberhalb von Zünikon geniessen wir die (schwache) Sonne, gleich gehts länger durch den Wald

Im Folgenden geraten wir wieder in den Wald. Auf den Tannenzweigen liegen letzte kleine Schneepolster. Einen richtigen Namen scheint der Wald laut Karte nicht zu haben. Und von der «Prähistorischen Wehranlage» beim Heidenmoos sehen wir gar nichts. Das ist oft so mit vorgeschichtlichen Festungen, es braucht das geschulte Archäologenauge, sie zu erkennen.

Unser Schneeli des Tages
Unser Schneeli des Tages

Als wir schliesslich auch diesen Wald hinter uns haben, geht es abwärts ins Dörfchen Oberschneit. Es hat zwei Geschwister, Mittelschneit und Unterschneit. Sie freilich liegen nicht an unserem Weg. 

Unser nächstes Ziel sehen wir von Oberschneit aus. Ein Hügel, darauf ein einzelner riesiger Baum. Als wir ihn erreichen, freuen wir uns über den perfekten Weitblick zu den Höhenzügen über dem Thurtal, darunter der Stäälibuck und der Ottenberg.

Unsere Kuppe ist mit einer langen Sitzbank möbliert. Und es steht da ein Stein mit einer Inschrift. Wir sind bei der Huggenberger-Gedenkstätte gelandet. Der Mann, dem sie gewidmet ist, wurde 1867 in Bewangen geboren, dem Dorf in der nächsten Senke, das noch kleiner ist als Oberschneit.

Ort mit Aussicht – die Huggenberger-Gedenkstätte nah Bewangen
Ort mit Aussicht – die Huggenberger-Gedenkstätte nah Bewangen

Alfred Huggenberger war Schriftsteller. Er schrieb im Dialekt und auf Hochdeutsch, hat Schwänke, Erzählungen und Gedichte hinterlassen. Liest sie noch jemand? Ich bezweifle es. Dabei war Huggenberger zu Lebzeiten weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt, fanden sich seine Texte in Schulbüchern, bestritt er auch in Deutschland viele Lesungen.

Huggenberger, 1960 verstorben, sei zu Recht vergessen, urteilte der «Tages-Anzeiger» 2013. Er stützte sich auf einen Expertenbericht, der die Nähe des Dichters zu den völkischen Kräften der Nazizeit analysierte. Huggenberger war dem Gedankengut der Nazis verbunden, liess sich in Hitler-Deutschland feiern. «Der Hunger nach Anerkennung machte ihn blind und kalt vor den Opfern», steht in dem Bericht zu lesen.

So ist das mit dem Wandern. Man geht durch liebliche Landschaften und wird immer wieder mit dem menschlichen Tun konfrontiert. Mit Geschichte, Kultur, Religion. Mit Sternstunden, mit Abgründen.

Und weiter. Zehn Minuten später durchqueren wir Bewangen, gehen kurz darauf unter der Autobahn durch. Sie markiert auch die Kantonsgrenze. Adieu, Zürich, jetzt sind wir im Thurgau.

Bewangen duckt sich in eine windgeschütze Senke. Noch sind wir im Kanton Zürich
Bewangen duckt sich in eine windgeschütze Senke. Noch sind wir im Kanton Zürich

Gerlikon ist unser nächstes Ziel. In der Dorfmitte finden wir eine kleine, feine Kapelle vor. Und freuen uns – tatsächlich, sie ist offen. Wir sind in den letzten Jahren immer wieder vor verschlossenen Kirchentüren gestanden.

Die Kapelle von Gerlikon, gewidmet dem heiligen Georg. Jetzt sind wir im Thurgau
Die Kapelle von Gerlikon, gewidmet dem heiligen Georg. Jetzt sind wir im Thurgau

Drinnen staunen wir. Die Kapelle, berichtet eine Tafel, stammt aus dem 13. Jahrhundert. Die ältesten Wandfresken entstanden im 14. Jahrhundert. Sie zeigen christliche Motive, zum Beispiel den Kindermord des Herodes. Die Darstellungen sind auch in der Gegenwart eindrücklich, Wie müssen sie auf die Menschen in bilderarmen Zeiten gewirkt haben. Die nicht lesen konnten und hier biblisches Geschehen in aller Drastik vorgeführt bekamen.

Jahrhunderte alte Fresken erzählen in der Kapelle biblisches Geschehen nach – auch für die, die nicht lesen konnten
Jahrhunderte alte Fresken erzählen in der Kapelle biblisches Geschehen nach – auch für die, die nicht lesen konnten

Weit ist es nun nicht mehr bis Frauenfeld. Wir beginnen zu fantasieren, welche Pizza es sein soll. Ich habe die Karte daheim studiert und weiss bereits, dass ich eine «San Daniele» nehmen werde.

Ein paar Äcker noch, dann ein steiles Stück abwärts im Wald zum umgenutzten Industrieareal Walzmühle, und wir sind an der Murg, die im Südthurgauer Bergland nah Fischingen entspringt und bei Frauenfeld in die Thur mündet. Die Murg ist sozusagen eine alte Freundin, seit wir letztes Jahr ihr entlang von Münchwilen via Sirnach zum Kloster Fischingen jakobswanderten.

Wir folgen der Murg flussabwärts, überqueren sie schliesslich auf dem Schlossmühlesteg, haben nun Schloss Frauenfeld direkt vor uns. Über uns.

Frauenfelds historische Seite mit dem Schloss
Frauenfelds historische Seite mit dem Schloss

Ich gestehe, dass wir den Bau zwar zur Kenntnis nehmen, dass wir ihn aber keineswegs aufsuchen wollen. Wir sind dreieinhalb Stunden gewandert, haben viel ruhiges Land genossen, haben Alfred Huggenberger kennengelernt, haben eine wundervolle romanische Kapelle gesehen.

Jetzt haben wir nur noch eines im Sinn: Pizza! Und zwar subito!

Pizza «San Daniele» (vorn) im «Molino» im alten Postgebäude in Frauenfeld. Fein war sie
Pizza «San Daniele» (vorn) im «Molino» im alten Postgebäude in Frauenfeld. Fein war sie

Anforderung: 13,3 km, 276 Meter aufwärts, 378 Meter abwärts. 3 Stunden 25 Minuten.

Route: PDF von SchweizMobil

Interessante Links zum Thema: Alfred Huggenberger-Gesellschaft; Wikipedia-Eintrag zu Alfred Huggenberger; Kapelle Gerlikon; Pizzeria Molino in Frauenfeld.

Thomas Widmer wohnt im Zollikerberg, ist Reporter bei der «Schweizer Familie» und hat mehrere Wanderbücher verfasst. Er wandert zwei Mal pro Woche und sagt: «Man wandert nicht nur durch eine Landschaft. Sondern auch durch die Kultur, die Geschichte, die Politik. Wenns dazu etwas Gutes zu essen gibt: grossartig!»

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